DOMRADIO.DE: Am Karfreitag im Jahr 1724 ist sie das erste Mal überhaupt erklungen – die Johannespassion wurde vor genau 300 Jahren für diesen Gottesdienst von Bach als neuen Thomaskantor in Leipzig komplett neu komponiert – warum fasziniert das Werk uns heute auch noch so, obwohl sie gut zwei Stunden dauert und sehr drastisch Folter und Tod von Jesus Christus schildert?
Prof Dr. Meinrad Walter (Bachexperte, Theologe und Musikwissenschaftler): Die Johannespassion fasziniert so viele, weil es einfach gute Musik ist! Das ist bei Bach immer so, aber zur guten Musik kommen hier noch andere Aspekte; der Aspekt der Dramatik, der Aspekt, dass dieses biblisch bezeugte Ereignis in dieser Musik eben so plastisch uns vor Augen und Ohren geführt wird.
Es kommt auch dazu, dass andere Passionsmusiken sehr viel weniger bekannt sind, obwohl es in der Barockzeit, aber auch in allen Epochen unglaublich viel Passionsmusik gibt. Bach ist da aber einfach ein Spitzenreiter. Die Chöre wollen das nicht missen und es macht auch eine gewisse, drücken wir es so aus, tiefe Freude, das zu singen, das zu hören, das zu dirigieren.
DOMRADIO.DE: Bach hat das Werk für den Gottesdienst geschrieben. Heute bereiten sich Chöre lange auf so eine Aufführung vor, wenn es Laienchöre sind. Wie muss man sich das bei Bach vorstellen?
Walter: Das war sehr spannend bei Bach damals, denn die Johannespassion entstand nach einem Dreivierteljahr Amtszeit als neuer Thomaskantor, sie war sozusagen seine große Visitenkarte, die er den Leipzigern überreichte.
Denn bei der Besetzung der Stelle des Thomaskantors war Johann Sebastian Bach zunächst nicht die erste Wahl gewesen und nun konnte er zeigen, dass er doch der Richtige gewesen war. Er konnte an diesem Karfreitag Nachmittag alle seine musikalischen Kräfte zusammenziehen für eine Aufführung, die gottesdienstlich war, aber doch zugleich einen sehr konzertanten Charakter hatte. Das Plus, was er dafür hatte, war die Zeit des sogenannten "Tempus clausum", das heißt nach dem Sonntag Estomihi, das ist der Fastnachtsonntag, gab es keine solche aufwändige Musik in den Leipziger Hauptkirchen, sondern nur schlichte Choräle, auch etwas Gregorianik.
Das heißt, er konnte das schon vorbereiten, aber er musste ja erst mal die Passion dafür komponieren und konnte dann quasi im Schulunterricht das Stück proben. Aber dennoch ist es eine unglaublich große Leistung, was ihm da gelungen ist. Er muss ja die Stimmen und die Instrumente proben. Die spielten alle aus handgeschriebenen Noten, in denen bis heute nicht ganz wenige Fehler stehen. Und niemand kannte das Stück, es war ja für Sänger und Instrumentalisten nigel-nagelneu.
Wie gut das geklungen hat, weiß man nicht. Wir haben auch keine Zeugnisse wie eine Konzertkritik heute, dass dann die Zeitung schreibt, wie es war. Da gibt es höchstens mal Andeutungen. Wie es damals vor 300 Jahren geklungen hat, das wüssten wir also gerne. Ich denke aber, diese Form von Passionsmusik, verwurzelt in der Predigt und in der modernen Oper, die wird ihren Eindruck bei den Leipziger Bürgerinnen und Bürger damals auch gemacht haben.
DOMRADIO.DE: Wir reden hier von einem Werk, das für den Gottesdienst geschrieben worden ist. Wie kann es sein, dass die Johannespassion heute als Konzertstück zum Beispiel auch in der Kölner Philharmonie offenkundig die Menschen immer noch so gut erreicht?
Walter: Die Kraft dieses Werkes setzt sich offensichtlich in ganz verschiedenen Settings durch. Ich glaube, es ist so, dass die Johannespassion natürlich einen biblischen, einen gottesdienstlichen Kern hat. Aber das ist nicht alles. Es ist, auch wenn ich von Bibel, Gottesdienst, Liturgie, Karfreitag wenig weiß, ein großes Drama über das Leiden und Sterben eines Unschuldigen, das einfach niemanden kalt lässt. Ich kann das auf einer menschlichen Ebene hören und rezipieren. Das Werk ist unglaublich sinnlich und auch sinnvoll, beides in einer Einheit. Und dann kann ich es noch vertiefen.
Was in den Einzelnen beim Hören da immer vorgeht, das wüsste ich auch mal gerne. Das hat man beim Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach mal ansatzweise mit Befragungen versucht zu erforschen. Ich glaube, das Werk macht einen gewaltigen Eindruck. Als Kronzeuge wird bei Bachs Passionen immer Friedrich Nietzsche angeführt, der dann schon im 19. Jahrhundert sagte: Wer diese Matthäuspassion hört, er hörte sie dreimal in Basel, der hört ein Evangelium, ob er will oder nicht. Das ist eine frohe Botschaft. Und die kann man vertiefen ins Biblische, ins Theologische. Aber man muss es auch nicht.
Man kann sagen, das ist wie eine geistliche Oper. So heißen diese Stücke ja auch zur Bachzeit. Und ob ich dann so weit komme, dass ich sage, dass es nicht nur ein großer Eindruck, sondern das ist alles geschehen für mich und wegen mir. Da sind die Grenzen bei den Zuhörern sicher sehr, sehr fließend. Die Johannespassion hören ja auch Menschen, die nicht Christen sind. Und trotzdem sind sie beeindruckt.
Man kann es auch als Kulturdenkmal hören und es hängt vieles davon ab, wo man es hört, in welcher Zeit man es hört, mit welcher Intention, was da für eine Atmosphäre herrscht. Da kann man manches planen, manches auch nicht.
Bei der Wiederaufführung der Matthäuspassion in Berlin 1829 gibt es einen Brief, da heißt es: "Der Saal gab den Anblick einer Kirche, weil die größte Andacht herrschte." Das ist auch eine Antwort auf Ihre Frage. Zunächst mal reizt dieses Werk zu einer Andacht, zu einem Bedenken, was aber auch mit Nachdenken zu tun hat. Dann sind es ganz viele Ereignisse, die geschildert werden und emotional packt es einen. Rational aber auch. Und das ist etwas, woran man nicht vorbeigehen will. Wie überhaupt die ganze Bach'sche Musik für so etwas steht.
DOMRADIO.DE: Und besonders bei der Johannespassion greift ja Bach zu einer sehr lautmalerischen Tonsprache, vor allem, wenn es um den Prozess Jesu geht. “Kreuzige ihn!” Das ist ein sehr eindrucksvoller Chor. Einmal fällt der Chor dem Evangelisten sogar ins Wort, als es darum geht, ob jetzt Jesus freigelassen wird und dass er ja angeblich der König der Juden ist. “Weg, weg mit dem” heißt es da. Weshalb deutet Bach diese Szenen so dramatisch?
Walter: Er will es so zuspitzen. Bach hat gemerkt: Das ist beim Evangelium nach Johannes ein sehr hoheitlicher, sehr souveräner Jesus Christus, der auch in der Passion noch souverän bleibt. Nicht Jesu Widersacher handeln, sondern er fragt sie: Wen suchet ihr? Sie müssen brav quasi antworten. Und dann spitzt es sich immer mehr zu. Die große Menge ist gegen ihn. Und das will Bach sich sozusagen dramaturgisch nicht entgehen lassen.
Wenn ich das mit der Liturgie vergleiche, dann heißt es ja: Sie sprachen aber: Kreuzige ihn! Und es geht weiter in der Handlung. Und bei Bach wird es gesungen, es wird eingeleitet und dann erklingt das zwei Minuten lang. Und dieses "Kreuzige ihn" hat natürlich eine ganz andere Präsenz. Ich kann mich dem nicht entziehen. Ich kann auch nicht weghören. Beim Bild im Museum kann ich wegschauen, wenn mir die Kreuzigung zu brutal erscheint. In der Musik bin ich dem sozusagen ausgeliefert.
Dann hat Bach noch eine Idee gehabt: Am Anfang der Passion fragen die Menschen zweimal nach Jesus, er fragt sie zweimal, wen sie suchen. Von dieser Doppelung ausgehend, erfindet er plötzlich ein Geflecht einer Symmetrie, so dass er versucht, möglichst viele dieser packenden, dramatischen, auch aggressiven Chöre quasi doppelt zu vertonen, sodass eine Musik auf zwei Texte passt. Also wir haben den Text: "Wir haben ein Gesetz" und dann "Lässest du diesen los" mit derselben musikalischen Substanz. Das führt dann auch zu einer gewissen Einheitlichkeit.
Manche Musikwissenschaftler sagen sogar, dass das zu einer übergeordneten Ordnung gehört. Das sind gar nicht nur die, die jetzt so rufen, sondern sie sind eingefügt, quasi untergeordnet, unter einem größeren göttlichen Plan, dass das so gehen muss, weil nicht nur die Aggressiven Jesus sozusagen bedrängen, schließlich töten, sondern er sich in freier Liebe zu Gott und zu den Menschen hingibt, dass das Geschehen letztlich seinem und dem göttlichen Willen entspringt. Diese Turba-Chöre sind für Bach also reizvoll. In der Matthäuspassion schraubt er sie gewissermaßen zurück. Da werden sie kürzer, kompakter. In der Johannespassion lässt er seinen Ideen sehr, sehr freien Lauf, ohne diese Chöre wäre die Johannespassion nicht die Johannespassion.
DOMRADIO.DE: Sie haben eben ein wichtiges Wort gesagt: Aggressiv oder Aggressivität. Seit dem 7. Oktober gibt es in Europa leider eine neue Qualität des Antisemitismus, angefacht durch den schrecklichen Hamas-Terror gegen Israel. Auch mit Blick auf die Jahrhunderte alte Verfolgung der Juden durch Christen: Wie geht man denn in diesen Tagen mit solchen Stellen in der Johannespassion von Bach am besten um?
Walter: Das ist keine leichte Frage. Wichtig ist, dass man überhaupt damit umgeht, dass man nicht sagt: Das ist großartige Musik und vom Rest wollen wir nicht viel hören. Aber auf der anderen Seite soll man auch nicht sozusagen das Werk verdammen und meinen, es sei infiziert von Judenfeindlichkeit und könne nicht mehr erklingen.
Ich glaube, es gibt gangbare Wege, das zu reflektieren. Es ist ja kein Antisemitismus, weil es spielt überhaupt keine Rasse-Überlegungen hier in der Johannespassion eine Rolle. Es ist eine schwierige Komponente im Christentum, dass sich das Christentum profiliert, sozusagen auf Kosten des Judentums, was man dann antijüdisch nennt.
Das beginnt schon in der Bibel, weil da feindliche Brüder miteinander streiten. Aber es ist nicht eindeutig, es waren nicht Juden auf der einen Seite und auf der anderen Seite nur Christen. Jesus war Jude und seine ersten Jünger waren Juden. Das ist eine schwierige Gemengelage, die man da in der Bibel schon vorfindet. Dann entwickeln sich wirklich antijüdische Tendenzen sehr, sehr massiv im Christentum, die man heute nicht mehr bejahen, auf keinen Fall mittragen kann. Und sie schillern sozusagen auch in Bachs Musik hinein auf dem Weg der Dramatik.
Bach hat sich vermutlich für Juden wenig interessiert, aber für diese dramatische Konstellation hat er sich interessiert. Insofern steckt meiner Ansicht nach da ein antijüdisches Potenzial auch in dieser Musik, das muss man so sagen. Aber ich glaube, man muss das ganze Werk bedenken. Und das letzte Wort haben tatsächlich immer die Choralstrophen, und die beziehen alles auf ein christliches Wir und auf mein persönliches Ich. Auf die Frage: "Herr, bin ich es?" heißt es nicht: "Der böse Judas war es, er wird ihn verraten", sondern: "Ich, ich und meine Sünden." Und das darf man nicht vergessen. Das letzte Wort haben die Choräle. Und es wäre anders, wenn Sie jetzt die heutige Situation ansprechen.
Wenn es heute überhaupt Anzeichen gäbe, dass sich antijüdische oder antisemitische Tendenzen irgendwie an diese Musik von Johann Sebastian Bach anzudocken versuchen. Das kann ich aber nirgends sehen. Diese Musik ist für die Vertreter solcher Richtungen viel zu komplex und die sind dieser Musik, glaube ich, intellektuell nicht gewachsen. Von daher haben wir dieses Problem nicht, dass ein neuer Antisemitismus irgendwie genährt wird von Bachs antijüdischem Potenzial in der Musik, das würde ich nicht sehen.
Aber man muss da reflektieren, wachsam sein und darüber reden. Das ist auch eine Frage der Musikvermittlung und eine Frage der Glaubensvermittlung. Aber das gilt für jeden Karfreitag, wenn die Passion gemäß der Bibel erklingt und auch dieses Antijüdische da mitschwingt, da kommen wir nicht von weg.
DOMRADIO.DE: Von der Johannespasion gibt es jedes Jahr zahllose Aufführungen, vom Profichor im Konzertsaal über Inszenierungen, bei denen auch getanzt wird, bis hin, dass ein ambitionierter Kirchenchor sich lange vorbereitet und dann eine schöne Aufführung in seiner Pfarrkirche macht. Es geht ja auch immer ums Vermitteln von sogenannter klassischer Musik, auch wenn wir natürlich jetzt konkret von Barockmusik sprechen. Zum Schluss die Frage: Wie können wir denn vielleicht den Menschen heute die Johannespassion am besten vermitteln? Mit Tanz, mit Showeinlagen oder mit dem klassischen Konzert?
Walter: Meine Tendenz geht schon auch stark für das klassische Konzert, aber auch für den Gottesdienst. Im Rahmen einer größeren Wort Gottes-Feier scheint mir das gar nicht unmöglich, dass da auch liturgische Elemente wie ein Vaterunser, wie ein Gemeindechoral, wie eine kleine Ansprache vorkommen. Aber die Möglichkeit, Kunst durch andere Kunstsparten zu interpretieren, ist auch offen.
Es gibt Schulprojekte zur Johannespassion, das wäre typisch Vermittlung. Es gibt die Johannespassion in einer Fassung für Jugendliche. Es gibt Einführungsvorträge und natürlich gibt es immer wieder choreografische Lösungen, die sehr interessant sein können. Wenn zum Beispiel der Prozess Jesus-Pilatus gewissermaßen gespiegelt wird in einer Aufführung mit dem Prozess vor dem Volksgerichtshof gegen Märtyrer des Widerstands während der Nazi-Zeit. Und wenn es da szenische, kurze Einlagen gibt mit Texten, dieses Feld ist völlig offen. Das finde ich sehr gut.
Und es ist ein bisschen ein Mittel gegen eine Ritualisierung: Wir hören das Werk jedes Jahr und wir sind zufrieden, wenn wir es gehört haben. Wir zahlen den Eintritt, in der Pause gibt es den Sekt und dann ist alles wieder gut. Nein, dafür ist die Geschichte doch zu dramatisch, zu weltbewegend. Die darf etwas fremd und etwas verstörend bleiben. Manchmal sind gerade diese innovativen Aufführungsmöglichkeiten eine Chance, da wieder hinzukommen. Dann sind wir so überrascht, wie vielleicht Bachs erste Hörerinnen und Hörer waren, für die diese Musik einfach brandneu und ungewohnt war. Wir haben uns da durch den vielen Konsum der Musik schon vielleicht zu sehr an das Werk und an seine biblisch-christliche Botschaft gewöhnt. Da kann so ein kleiner Zusatzimpuls auch sehr wichtig sein.
Das Interview führte Mathias Peter.