KNA: Professor Wollbold, Verzicht für das Klima oder Opfer für die Volksgesundheit werden heute oft gepredigt. Auf der anderen Seite raten Seelsorger aufgrund der Pandemie zum Teil zu einem Verzicht auf das Fasten. Wie erklären Sie sich das?
Andreas Wollbold (Münchner Pastoraltheologen): Krisen provozieren Aktivismus. Nicht immer ist er erleuchtet. Das macht auch vor der Seelsorge nicht Halt. Dabei lehrt die Erfahrung, in Krisen einen ruhigen Kopf zu bewahren und sich an das Bewährte zu halten. Oder es sogar neu zu entdecken. Das könnte gerade für das Fasten gelten. Bewährt ist ein maßvolles, Umständen und Personen angepasstes und nicht verzwecktes Fasten. Mit Blick auf die Klima- und Ernährungs-Krise erleben wir dagegen vielerorts einen neuen Puritanismus, der die Leute durch ein "Nie genug!" unter Druck setzt. Dadurch hält man das Krisenbewusstsein wach, schafft ein ständig schlechtes Gewissen und leistet dem Vorschub, was Jesus als Haltung der Pharisäer kritisiert, "die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt sind und andere verachten" (vgl. Lk 18,9). Entspannter, effektiver und einfacher ist es, in sich zu gehen und zu merken: Mir würde Fasten guttun. Bevor ich anderen das Schnitzel madig mache, konzentriere ich mich auf das, was ich selbst nötig habe.
KNA: Warum aber Fasten?
Wollbold: Es gehört zum Leben jedes Menschen, und darum findet es sich auch in den meisten Religionen. Seit Adam herrscht Unordnung im Menschen: Die innere Bedürfnisstruktur jedes Menschen ist in Unordnung geraten. Dies tritt vor allem bei den Grundbedürfnissen von Hunger und Durst, von Sexualität und von Anerkennung, in Erscheinung. Sie alle sollten eigentlich zu einem guten, vernunftgeleiteten und Gottes Willen ergebenen Leben beitragen. Stattdessen wollen sie selbst das Steuer in die Hand nehmen und den Menschen beherrschen. Paulus sagt daher: "Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern herrscht" (Röm 7,23). Da gibt es also nur eines: aufräumen, die Ordnung wieder herstellen - und das heißt eben vor allem, das bewusst kleinzuhalten, was sich übermäßig aufbläht. Beim Essen meint das dann eben den bewussten Verzicht selbst auf das normale Maß, und das um Gottes willen.
KNA: Wie sollen wir aber fasten?
Wollbold: Die lange Geschichte des christlichen Fastens hat manche Rekordmeister hervorgebracht, die jahrelang kurz vor dem Verhungern standen. Dabei sind sie übrigens oft steinalt geworden sind, so der heilige Wüstenvater Antonius mit seinen 105 Jahren. Für in der Welt stehende Christen ist der Normalfall jedoch ein maßvolles und persönlich angepasstes Fasten. Dabei kann man durchaus auch an der Gesundheit Maß nehmen. Denn wie die Bedürfnisherrschaft schädlich ist für Leib und Seele, so ist die Wiedergewinnung der inneren Balance und einer souverän-gelassenen Vernunftsteuerung rundum wohltuend. Traditionell geht es beim Fasten hauptsächlich um Verzicht auf Nahrung oder zumindest Verminderung der Rationen über eine gewisse Zeit.
KNA: Früher war das Fasten weiter verbreitet...
Wollbold: Die katholische Kirche hat leider im Lauf des 20. Jahrhunderts ihre reiche kollektive Fastenkultur, die sich bis in typische Bräuche wie die Fischspeise am Heiligabend auswirkte, schrittweise bis fast auf Null reduziert. Da tut sich ein reiches Feld für effektive Kirchenreform auf! Dabei waren verbindliche Fastenvorschriften der Kirche allerdings stets maßvoll: So war eine Hauptmahlzeit am Tag erlaubt, später auch eine kleine Stärkung (allerdings auch nicht mehr!), wenn normalerweise eine weitere Mahlzeit angestanden hätte. Leitgedanke war es, für die tägliche Arbeit nicht geschwächt zu werden. Aus diesem Grund waren Schutzwürdige wie Schwangere, Kinder und Ältere, aber auch Reisende und Gäste an fremden Tischen weitgehend dispensiert.
KNA: Aber auch über das Jahr verteilt gab es doch immer wieder Zeiten und Tage, die besonders der Askese gewidmet waren ...
Wollbold: Ja, beispielsweise durch zwei Sonderformen des Fastens: den Verzicht auf Fleisch ("Abstinenz") und die eucharistische Nüchternheit. Schon die Wüstenväter haben eine Affinität zu einer vegetarischen Ernährungsweise oder zumindest einer deutlichen Reduktion des Fleischgenusses gezeigt. Das ist heute überraschend aktuell. Die Christen waren allerdings klug genug, dies nicht von anderen zu fordern, sondern es besonderen Orten und Zeiten zu überlassen, also etwa am Freitag auf Fleisch zu verzichten. Auch eucharistische Nüchternheit - also Fasten ab Mitternacht vor dem Kommunionempfang - war lange wichtig zur angemessenen Vorbereitung auf den Empfang der Kommunion. Heute gilt nur noch die Nüchternheit eine Stunde vor dem Kommunionempfang. Auch hier stünde eine Renaissance der alten Übung an.
KNA: Für junge Erwachsene werden Programme wie "Exodus90" angeboten: Der Plan ist durch eine dreimonatige «Challenge» das Leben wesentlich zu verändern. Fasten, kalte Duschen, eine disziplinierte Frömmigkeit in dieser Zeit. Was sagt der erfahrene Seelsorger dazu?
Wollbold: Zunächst einmal darf man sich freuen, wie kraftvoll alte Übungen und Weisheiten wiederentdeckt werden. "Exodus 90" ist so etwas wie intensive Trainingseinheiten, vergleichbar mit traditionellen Exerzitien, Fastenzeiten, besonders einem Bußfasten oder Kloster auf Zeit. Ihre Nähe zum amerikanischen Evangelikalismus macht solche Programme manchmal arg "tough", willensorientiert und Grenzen austestend. Da könnte die Gefahr lauern, dass am Ende vor allem ein stolzes "I did it"-Gefühl aufkommt und man vielleicht selbstbeherrschter, aber auch härter geworden ist. Da würde ein katholischer Weg wohl stärker die weichen, gefühlvollen Seiten mitnehmen.
Das Interview führte Simon Kajan.