DOMRADIO.DE: Wie haben Sie beide sich kennengelernt?
Benediktiner Pater Stephan Vorwerk (Gründer der "Cella St. Benedikt" auf der Insel Reichenau): Ich war von 1995 bis 2001 im Heiligen Land. In diesen Jahren war ich in Tabgha als Oberer und habe das kleine Kloster dort geleitet.
In dieser Zeit kam Wolfgang Thierse als Präsident des Deutschen Bundestages zu Besuch, letztendlich als Pilger. Ich habe ihn damals geführt und wenige Jahre später traf ich ihn zufällig im Urlaub in Südtirol wieder – morgens beim Frühstück in einem Wanderhotel, wo ich ihn dann angesprochen habe.
Er erkannte mich irgendwie wieder und wir haben uns am nächsten Tag länger im Restaurant unterhalten. Er fragte, was ich jetzt mache. Ich habe ihm erzählt, dass ich mittlerweile auf der Insel Reichenau bin, weil wir dort eine neue Cella gegründet haben. Daraufhin sagte er mit seiner Frau zu mir, dass ihn die Insel sehr interessiere und er gerne mal auf die Insel kommen möchte.
Wenige Monate später kam er mit seiner Frau für einige Tage auf unsere Insel Reichenau. Er hat sich die drei Kirchen angeschaut und mit uns und mit mir gesprochen. Er kam auch zum Stundengebet und hat gespürt, da ist was Neues.
Er ist immer offen für Neuerungen in der Kirche. Er ist ein engagierter Christ, der Dinge beim Namen nennt, der sich nicht versteckt, der offen, tolerant und letztlich ein wahrer Gottsucher ist.
DOMRADIO.DE: Wie äußert sich diese Gottsuche. Wie geht er da vor?
Pater Stephan: Innerlich engagiert, er stellt Fragen in Gesellschaft und Religion. Die Strukturen unserer Kirche möchte er immer wieder im Geist der Wandlung und der Erneuerung sehen. Und wenn man in Jesus Christus hineinschaut, war das einer, der immer wieder zutiefst der Wandlung in seinem Leben gegenüber stand und der einfach nicht statisch war.
DOMRADIO.DE: Wolfgang Thierse hat 2019 einen offenen Brief an Reinhard Kardinal Marx in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit unterschrieben. Darin ging es um einen "Neustart mit der Sexualmoral", um "echte Gewaltenteilung" in der Kirche, um Weiheämter für Frauen und um einen freiwilligen Zölibat. Haben Sie dieses Engagement auch in seiner Politik gespürt?
Pater Stephan: Ja, natürlich! Er war immer der Kirche zugetan. Der Glaube als Politiker war ihm immer wichtig. Das kann man verbal nicht ausdrücken. Das ist eher ein Gespür, was ein Mensch entwickelt. Ich habe bei ihm immer dieses Gespür gehabt, dass er ein sehr engagierter Christ ist.
Ich bin sehr dankbar, dass ich Wolfgang Thierse kennengelernt hab. Diese Offenheit, diese Religiosität, die er als Politiker verkörpert, findet man nicht ständig. Das finde ich bei Wolfgang Thierse sehr überzeugend, dass er wirklich ein engagierter Christ ist.
DOMRADIO.DE: 2003 hat Wolfgang Thierse ein Hörbuch eingesprochen mit einer Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Haben Sie jemals etwas von seiner Weihnachtsliebe mitbekommen?
Pater Stephan: Nein, nicht direkt, aber das sagt ja was über ihn selbst aus. Wenn er dem Weihnachtsfest sehr zugetan ist, hat das was mit Menschwerdung zu tun, weil unser Gott Mensch geworden ist. Diese Menschwerdung verkörpert er auch mehr und mehr.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie ihm heute zum 80. Geburtstag?
Pater Stephan: Ich wünsche ihm heute zum 80. Geburtstag, dass er so bleibt, wie er ist: Ein lebendiger, kraftvoller, engagierter Christ und Politiker und vor allem Mensch.
Das Interview führte Heike Sicconi.
Unesco-Welterbe Klosterinsel Reichenau
Die Klosterinsel Reichenau im Bodensee war im Mittelalter eines der bedeutendsten geistlichen und kulturellen Zentren Europas. Etwa zwischen 800 und 1200 erblühten dort Theologie, Wissenschaften, Buchkunst und Musik. Mönche wirkten als politische Berater; die Klosterschule bildete Eliten aus.
