domradio.de: In Deutschland sprechen wir von einer Wende und einem Rechtsruck, wie sprechen die Franzosen über die Wahl?
Stefan Lunte (Berater im Generalsekretariat der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft ist in Frankreich): Es ist nicht nur ein Rechtsruck, sondern ein extremer Rechtsruck. Es ist eben der Front National, eine Antipartei mit relativ wenigen bekannten Gesichtern. Wenn man von Frau Le Pen, ihrer Nichte und Herrn Philippot im Elsaß absieht, hat diese Partei sich insgesamt in sechs Regionen an die Spitze gesetzt. Das ist schon ein Schock für viele Franzosen, für andere, die die Liste gewählt haben, natürlich nicht. Sie wollten natürlich damit etwas ausdrücken und haben das an der Urne niedergelegt. Ein großes Fragezeichen steht heute über ganz Frankreich: Niemand weiß so recht, wie das jetzt weitergehen soll und was jetzt in der nächsten Runde dieser Regionalwahlen, die am nächsten Sonntag stattfinden, auch wirklich passiert.
domradio.de: Was bedeutet dieser Wahlausgang konkret für Frankreich?
Lunte: Dass zwei bis drei Regionen mit einem Budget zwischen zwei und drei Milliarden Euro im Jahr von einer Partei regiert werden, von dem Front National, die noch nie auf dieser Ebene politisch Verantwortung getragen haben, die zeigen müssen, dass sie tatsächlich auch die verwaltungsmäßigen Qualitäten haben, so eine Region zu gestalten. Darüber hinaus ist es natürlich ein dicker Hammerschlag für die bürgerliche Rechte, aber auch für die Sozialisten, die mit ihnen verbündeten Kommunisten und Grünen, die in den vergangenen Jahrzehnten in Frankreich die Verantwortung getragen haben. Sie haben es nicht geschafft, ihren Arbeitsmarkt so zu reformieren, dass es jungen Menschen möglich wird, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Sie haben es nicht geschafft, ihren Haushalt unter Kontrolle zu bekommen. Sie haben es auch nicht geschafft, das Gefühl von Sicherheit aufrecht zu erhalten, die letzten Anschläge haben das noch einmal unterstrichen. Es gibt Lücken im französischen Sicherheitssystem, es gibt da viel zu tun und Menschen fühlen sich verunsichert, sozial verunsichert. Die Konsequenzen sind eben diese Wahlergebnisse.
domradio.de: Haben die jüngsten Anschläge von Paris dem Front National in die Karte gespielt?
Lunte: Sie haben in die Karten gespielt, aber nur graduell. Ich glaube nicht, dass sich das Ergebnis deutlich anders gestaltet hätte. Sie haben vielleicht hier und da einige Prozentpunkte noch zugelegt, aber all das, war auch vorher schon in Umfragen deutlich spürbar, was wir am Sonntag als Ergebnis erlebt haben. Es gibt ein grundsätzliches Gefühl: Wir haben es satt mit dieser politischen Klasse, die von Wahltermin zu Wahltermin sich vielleicht abwechselt, aber nichts ändert in der Politik. So wird es wahrgenommen. Da gelingt es den traditionellen Parteien auch nicht mehr, sich voneinander zu unterscheiden, mit einem glaubwürdigen Alternativprogramm aufzutreten und vor allen Dingen tatsächlich auch etwas zu ändern. Frankreich ist blockiert seit vielen Jahren - anders als Deutschland, wo eben Strukturreformen des ersten Jahrzehnts, des zweiten Jahrtausends es möglich gemacht haben, da eine Wende herbeizuführen.
domradio.de: Kommenden Sonntag geht es weiter mit dem zweiten Wahlgang, ist da noch mit einer Überraschung zu rechnen?
Lunte: Das Endergebnis wird sich wohl noch entwickeln, dass letztlich zwei oder drei Regionen tatsächlich eine Mehrheit des Front National haben. Das ist ein etwas eigenartiges Wahlsystem, dass hier die Liste, die als erste die Linie überschreitet, schon mal um einen gewissen Bonus zu verteilen, 25 Prozent aller Sitze bekommt. Das führt dazu, dass eine Liste, die mit beispielsweise nur 35 Prozent gewählt wird, die absolute Mehrheit in der Regionalversammlung bekommt. Etwas kompliziert, aber das bedeutet das Risiko, dass einige Regionen tatsächlich extrem rechts dominiert werden. In anderen Regionen hängt es davon ab, ob es zu Absprachen kommt, zwischen der bürgerlichen Rechten und den Sozialisten hier und dort, um dann doch noch eine Blockade für den Front National darzustellen.
Das Interview führte Silvia Ochlast.