KNA: Frau Claus, Sie sind Mitglied im Betroffenenrat. Erstmals befasst sich nun die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Thema sexualisierte Gewalt. Werden Sie dort für die Betroffenen sprechen?
Kerstin Claus (Mitglied im Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs): Nein, ich bin nicht dabei. Eine offizielle Einladung gab es nicht. Natürlich sind Betroffene dort auch nicht ausgeschlossen, meines Wissens sind sogar zwei dabei, aber in der Synode haben sie kein Rederecht, sie können im Anschluss in einem anderen Raum das Gespräch mit Kirchenvertretern suchen. Das finde ich nicht richtig. Eine wirkliche Beteiligung gibt es nicht. Die evangelische Kirche steckt da ganz in den Anfängen.
KNA: Wenn von Missbrauch in der Kirche die Rede ist, fällt in der Regel nur das Stichwort katholische Kirche...
Claus: Ja, und das hat ganz spezifische Gründe. Bei den meisten Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche, die ich kenne, waren die Betroffenen in der Regel 14 Jahre und älter – in einem Alter, in dem sie vermeintlich hätten "Nein" sagen können. Das macht es schwierig zu erkennen, dass es sich hier immer um sexualisierte Gewalt handelt, die von der Kirche nicht toleriert wird. Das braucht es, um auch diese Betroffenen zu ermutigen, sich zu melden. Die evangelische Kirche muss klar zeigen, dass sie das Ausmaß von Missbrauch in ihren Strukturen wirklich wissen will.
KNA: Was sagen Sie dann zu der Argumentation des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber, der sagt, dass die evangelische Kirche durch ihre andere Struktur nicht so anfällig für Missbrauch ist wie die katholische?
Claus: Diese Äußerungen finde ich unsäglich. Diejenigen, die denken, dass Missbrauch nur etwas mit der sexuellen Ausrichtung der Täter und mit dem Zölibat zu tun haben, haben nichts verstanden. Missbrauch ist erst mal Machtmissbrauch, davor ist die evangelische Kirche nicht gefeit. Auch bei deren Kirchenvertretern gibt es narzisstische Persönlichkeiten, die ihren speziellen Zugang in der Kinder- und Jugendarbeit ausnutzen und für die die absolute Verfügungsgewalt – auch über den Körper – der Inbegriff von Macht ist.
KNA: Was erwarten Sie denn von der Synode?
Claus: Trotz aller Kritik begrüße ich es, dass das Thema Missbrauch überhaupt auf der Tagesordnung einer Synode steht. Viel zu lange ist die evangelische Kirche im Windschatten der katholischen Kirche mitgesegelt. Für den notwendigen Druck hat erst ein Hearing im Frühjahr in Berlin gesorgt, das sich mit dem Thema Missbrauch in beiden Kirchen beschäftigte. Ich hoffe natürlich, dass jetzt weitere Schritte folgen.
KNA: Welche Forderungen haben Sie?
Claus: Es muss eine unabhängige zentrale Anlaufstelle für Betroffene geben, zu der auch diejenigen kommen können, die sich nicht direkt an die Kirche wenden wollen oder können. Zudem muss auch die evangelische Kirche eine wissenschaftliche Studie in Angriff nehmen, damit wir endlich wissen, über wie viele Fälle wir eigentlich sprechen, und es muss analysiert werden, wie die Kirche mit diesen Fällen – mit den Betroffenen und mit den Tätern – umgegangen ist. Auch hier wurde vertuscht und versetzt. Bei allen Schritten sollten Betroffene miteinbezogen werden.
KNA: Ein Beauftragtenrat hat das Thema für die Synode vorbereitet. Wie stehen Sie zu dem Gremium?
Claus: Natürlich begrüße ich auch hier, dass es ein solches Gremium gibt und dass dadurch das Thema auf der Synode zur Sprache kommt. Aber es ist ein Problem, dass jede Landeskirche mit dem Thema Missbrauch anders umgeht und auch in diesem fünfköpfigen Gremium niemand den Vorsitz hat. Ich frage mich, über welche Befugnisse dieser Rat verfügt, wer letztlich festlegen kann, in welche Richtung es geht. Wie man nicht zuletzt an den Äußerungen Hubers sehen kann, gibt es genügend Kräfte, die die positiven Ansätze, die es ja inzwischen auch gibt, torpedieren wollen.
Das Interview führte Birgit Wilke.