Betroffener kritisiert mangelnde Konsequenzen aus Missbrauchsstudien

"Keine Augenwischerei mehr"

Mehr Täter und Betroffene als gedacht. Die Studie über sexualisierte Gewalt im Bistum Osnabrück enthüllt schockierende Zahlen. Karl Haucke, Mitglied der Steuerungsgruppe, lobt die Arbeit der Autoren und fordert echte Konsequenzen.

Autor/in:
Johannes Schröer
Altstadt Osnabrück / © Sina Ettmer Photography (shutterstock)
Altstadt Osnabrück / © Sina Ettmer Photography ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie waren als Betroffener an der Studie beteiligt, als Co-Forscher, wie es heißt. Wie darf man sich das denn vorstellen?

Karl Haucke / © Lino Mirgeler (dpa)
Karl Haucke / © Lino Mirgeler ( dpa )

Karl Haucke (Betroffener und Mitglied der Steuerungsgruppe des Forschungsprojekts zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Osnabrück): Man kann ja unter Betroffenenbeteiligung, ohne die es nicht geht, in solchen Forschungsprojekten sehr viel Verschiedenes verstehen. Die Wissenschaftler in Osnabrück haben das so gemacht, dass sie uns drei Betroffene in der Runde sehr ernst genommen haben. Und zwar nicht nur mit der in Anführungszeichen Qualifikation als Betroffene, sondern auch als Menschen, die wir mit unserer Professionalität sind. Ich bin Sozialwissenschaftler und diese Qualifikation habe ich an sehr vielen Stellen einbringen können. 

DOMRADIO.DE: Die Studie hat ergeben, dass es 122 verdächtige Kleriker und über 400 Betroffene im Bistum Osnabrück gibt. Was sagen Sie zu diesen erschütternden Zahlen? 

Haucke: Jedes einzelne Kind ist eins zu viel! Die Zahlen sind leider immer wieder erschütternd. Es ist nicht das erste Aufarbeitungsprojekt, an dem ich beteiligt bin. 

Karl Haucke

"Es werden aus meiner Sicht zu wenige Konsequenzen gezogen."

Mir ging es diesmal um eine Methode der Analyse des Geschehens und der Darstellung zu finden, die es wirklich ermöglicht, mit den Ergebnissen etwas anzufangen. Wir haben viele Studien im Bistumsbereich und ich staune immer wieder, wie gut die Bistümer in der Lage sind, mit den vielen und teuren Ergebnissen nachher nichts zu machen. Es werden aus meiner Sicht zu wenige Konsequenzen gezogen.  Das mag vielleicht daran liegen, dass man so schwer Konsequenzen aus Zahlen zu Tätern und Betroffenen ziehen kann. 

Ich glaube, das reicht nicht, um Mitarbeiter eines Bistums anzuregen, Konsequenzen zu ziehen. Und darum hat diesmal mein Augenmerk und das Augenmerk der anderen Betroffenen darauf gelegen, dass wir es versuchen, so darzustellen, dass die Verantwortlichen und die Auftraggeber dieser Studie auf die notwendigen Veränderungen in ihrem Bereich quasi gestoßen werden. 

DOMRADIO.DE: Der Projektleiter Professor Hans Schulte-Nölke hat gesagt, dass die erbrachten Leistungen an Betroffene würden hinter dem zurückbleiben, was Gerichte inzwischen den Betroffenen zusprechen und seien auf niedrigem Niveau. Wie wütend macht Sie das? 

Haucke: Also das Originalzitat heißt: 'Die Leistungen sind niedriger, als was Gerichte in klaren Fällen zusprechen.' Die Aussage macht mich nicht wütend und die Tatsache, dass es so ist, macht mich auch nicht so wütend. 

Viel wütender macht mich die Argumentation, die häufig dahintersteht. Wenn wir sehen, dass Bistümer keine Haftung übernehmen. Wenn wir sehen, dass Bistümer überlegen, die Verjährung ins Spiel zu bringen. Wenn bei einem Priester, der zwei Schwangerschaften bei einer Minderjährigen verursacht hat, gesagt wird: 'Na ja, das hat er ja in der Freizeit gemacht.' Das sind alles Dinge, die mich wütend machen. 

DOMRADIO.DE: Sie sagen, dass Aufarbeitung Zukunftsgestaltung ist. Die Ursache liegt in der Zukunft. Das ist ein wichtiger Satz von Ihnen. Was bedeutet das? 

Haucke: Solche Projekte wie jetzt sollen ja nicht nur für Datenberge sorgen, sondern sie sollen weiterführen. Sie müssen zu etwas führen! Und das ist eine Veränderung von strukturellen Bedingungen. Und zwar eine Veränderung der Bedingungen, die dafür gesorgt haben, dass Kinder sexueller Gewalt unterliegen können. Und das ist eben das, was in der Zukunft liegt, dass solches nicht mehr passiert. Und das ist die Ursache dafür, dass wir diese Projekte machen. 

DOMRADIO.DE: Ist Osnabrück da ein Bistum unter den vielen anderen Bistümern? Wie kann man denn diese Zahlen einordnen, wenn man einen Blick auf die katholische Kirche in Deutschland insgesamt wirft? 

Haucke: Tatsache ist, dass insgesamt die deutschen Bischöfe sehr gerne mit Zahlen jonglieren, und zwar mit Zahlen, die letztlich Augenwischerei sind. 

Karl Haucke

"Wir müssen inzwischen gesamtgesellschaftlich von ganz anderen Zahlen ausgehen." 

Die Bischofskonferenz redet immer noch von den 3677 Betroffenen aus der MHG-Studie aus dem Jahr 2018. Wir müssen ja inzwischen gesamtgesellschaftlich von ganz anderen Zahlen ausgehen. Die Schätzung von Prof. Jörg Fegert von der Uni Ulm rechnet mit 114.000 Betroffenen. Wir haben die Dunkelfeld-Studie in Frankreich. Im klerikalen Bereich gibt es da 300.000 Opfer. Das wissen die Bischöfe alles. Und trotzdem gaukeln sie uns immer noch die 3677 Opfer von 2018 vor. Das sind die Zahlen, die mich bewegen. 

MHG-Studie / © Harald Oppitz (KNA)
MHG-Studie / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Das Bistum Osnabrück sollte aus dieser Studie auch Konsequenzen ziehen. Das wurde heute Morgen auch klar. Dazu wird es dann in der kommenden Woche eine Pressekonferenz des Bistums geben. Welche Konsequenzen könnten und sollten das denn sein? 

Haucke: Wir haben ja eben über meine Rolle als Co-Forscher gesprochen. Die Co-Forscher waren sehr bewusst und sehr gezielt als Betroffene ausgewählt, nicht aus dem Bistum Osnabrück. Das heißt, die Verhältnisse in Osnabrück kenne ich gar nicht so gut, und das war wichtig für meine Arbeit in der Steuerungsgruppe. 

Wenn wir vor Ort Betroffene gewesen wären, dann geht das mit der Anonymisierung ja gar nicht mehr. Als Menschen aus Osnabrück hätten wir ja in den Interviews die anderen Betroffenen wiedererkannt. Das kann man nicht machen. Das geht forschungsethisch nicht. Die Bedingungen, die in Osnabrück geändert werden müssen, davon verstehen die Betroffenen aus der Region aber sehr viel mehr. Es wird nächste Woche tatsächlich über Konsequenzen gesprochen, und zwar in einem Gespräch des Bischofs mit dem Betroffenenrat Nord. 

DOMRADIO.DE: Was haben Sie denn das Gefühl, dass sich da im Bistum Osnabrück was bewegt? Dass sich da tatsächlich was tut? Dass es auch den offenen Willen gibt, etwas zu verändern und auch mit den Betroffenen zusammen auf die Ursachen zu gucken und mit den Betroffenen zusammen diesen schweren Weg zu gehen? 

Bischof Dominicus Meier hält den Bischofsstab im römisch-katholischen Dom St. Petrus zu Osnabrück. Meier war am 28. Mai zum neuen Bischof des Bistums Osnabrück ernannt worden / © Friso Gentsch (dpa)
Bischof Dominicus Meier hält den Bischofsstab im römisch-katholischen Dom St. Petrus zu Osnabrück. Meier war am 28. Mai zum neuen Bischof des Bistums Osnabrück ernannt worden / © Friso Gentsch ( dpa )

Haucke: Tatsache ist, dass das ein schwerer Weg ist. Die Situation in Osnabrück ist so, dass es seit knapp einem halben Jahr einen neuen Bischof gibt. Das ist eine Aufbruchssituation, das ist eine Anfangssituation für ein Bistum. Darin sehe ich eine Chance! 

Das Interview führte Johannes Schröer.

Unabhängige Ansprechpersonen des Bistums Osnabrück

Die unabhängigen Ansprechpersonen für Opfer von sexueller Gewalt im Bistum Osnabrück sind erreichbar unter den (kostenlosen) Rufnummern und E-Mail-Adressen:

Olaf Düring. Diplom-Psychologe, Leiter der Familienberatungsstelle der Awo Osnabrück. Tel.: 0800/5015684. E-Mail: duering@awo-os.de.

Geistlicher Missbrauch: Julie Kirchberg. Diplom-Theologin, Geistliche Begleiterin. Tel.: 0800/7354127. (Stand 2024)

St. Peter aus Osnabrück (DR)
St. Peter aus Osnabrück / ( DR )
Quelle:
DR