Betroffener würdigt soziologischen Ansatz in Essener Studie

"Das hat es so bis jetzt nicht gegeben"

Die Essener Missbrauchsstudie wählt einen neuen Ansatz. Sexualisierte Gewalt wird nicht juristisch oder historisch angegangen, sondern sozialwissenschaftlich. Johannes Norpoth war bei dem Prozess als Betroffenenvertreter involviert.

Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz  / © Andre Zelck (KNA)
Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz / © Andre Zelck ( KNA )

DOMRADIO.DE: Die Studie, die vorgestellt wurde, hat einen soziologischen Ansatz. Es wird kritisiert, dass es keine konkreten, personellen Konsequenzen gibt. Können Sie das verstehen oder geht es um etwas anderes als nur darum, jemanden an die Wand zu stellen? 

Johannes Norpoth / © Julia Steinbrecht (KNA)
Johannes Norpoth / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Johannes Norpoth (Betroffener aus dem Bistum Essen und Beteiligter an der Essener Missbrauchsstudie): Ich kann aus der Perspektive eines Betroffenen verstehen, dass man Ross und Reiter genannt haben möchte. Aber dafür braucht man eine juristisch sauber aufgearbeitete Studie. Wenn das nicht möglich ist, dann wird aus dem guten Ansatz einer juristischen Studie eine Farce.

Die Studie aus dem Erzbistum Köln ist ein gutes Beispiel dafür. Hier konnte eine ganze Reihe von Verantwortlichkeiten zugeschrieben werden. Daraufhin ist der Offizial, ein diözesanes Amt, seines Amtes enthoben worden. Aber die Rücktrittsgesuche der betreffenden Bischöfe, über die in Rom entschieden wird, wurden nicht angenommen.

Welche Konsequenz hat dann eine solche Studie, wenn Namen genannt werden? Ich finde die Essener Studie wirklich bedeutend, weil es die erste Studie ist, die wissenschaftlich fundiert das Thema um eine soziologische Dimension weitet und die systemischen Ursachen sehr deutlich anhand von konkreten Fällen nachvollzieht. Das hat es so bis jetzt nicht gegeben, deswegen bin ich dankbar über dieses Studiendesign und die Studie selbst.

DOMRADIO.DE: Es gibt Kritik, dass die Macher der Studie, das Bistum Essen und die Betroffenen zu nah beieinander liegen. Bräuchte es nicht eine unabhängigere Aufarbeitung? 

Norpoth: Aufarbeitung kann nie durch solche diözesanen Analysen erfolgen. Wir kumulieren zwar Fragestellungen, wir aggregieren Daten auf dieser Ebene, aber der einzelne Fall, die einzelne Missbrauchstat, wird hierdurch nicht aufgeklärt. Deshalb braucht es ein individuelles Recht auf Aufarbeitung und volle Akteneinsichtnahme. Das darf nicht am Geheimarchiv eines Bischofs oder Erzbischofs scheitern, sondern es müssen alle Dinge gnadenlos auf den Tisch.

Johannes Norpoth (Betroffener aus dem Bistum Essen und Beteiligter an der Essener Missbrauchsstudie)

Die Studie ist eine Ansammlung von Fällen, wo der einzelne Betroffene, der ein Recht auf individuelle Anerkennung und Aufarbeitung seines Falls hat, Teil einer großen, zumeist anonymen Studienmasse ist.

Die Studie ist eine Ansammlung von Fällen, wo der einzelne Betroffene, der ein Recht auf individuelle Anerkennung und Aufarbeitung seines Falls hat, Teil einer großen, zumeist anonymen Studienmasse ist. Ich halte relativ wenig von dieser Form, weil es den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen keinesfalls gerecht wird. Eine echte Fallbezogenheit finden Sie in keiner der diözesanen Studien.

DOMRADIO.DE: Sie sind auch offiziell involviert beim Synodalen Weg. Die Deutschen haben gerade aus dem Vatikan ein Schreiben bekommen, das die Weiterführung dieses Prozesses stoppen soll. Als Teil dieser wissenschaftlichen Studie, die die systematischen Ursachen von Missbrauch hinterfragt: Was sagen Sie den Verantwortlichen im Vatikan, die meinen es ist alles nur politisiert und es geht nicht um Missbrauch?

Johannes Norpoth (Betroffener aus dem Bistum Essen und Beteiligter an der Essener Missbrauchsstudie)

Es muss mittlerweile klar sein, dass es keine unsägliche Einzeltaten sind, sondern dass es systemische Ursachen hat, warum Missbrauch und sexualisierte Gewalt in unserer Kirche durch Kleriker begangen wird.

Norpoth: Wir haben eine sauber herausgearbeitete, methodisch aufbereitete Studie. In Druckform werde ich, als Betroffener im Bistum Essen und als Beteiligter an der Studie, sie mit einem Brief an Kardinal Ouellet, dem Präfekten des Dikasteriums für die Bischöfe, senden, der einer der Autoren dieses unsäglichen Briefes der letzten Wochen war. Weil ich denke, dass er die Lektüre dieser Studie inhaltlich zwingend nötig hat, und ab April wird er die entsprechende Zeit dafür haben.

Es muss mittlerweile klar sein, dass es keine unsäglichen Einzeltaten sind, sondern dass es systemische Ursachen hat, warum Missbrauch und sexualisierte Gewalt in unserer Kirche durch Kleriker begangen werden. Dazu bietet diese Studie unfassbar viele Hinweise und auch Hinweise, wie man es zukünftig besser und anders machen kann. 

DOMRADIO.DE: Würden Sie sich eine härtere Hand vom Staat wünschen? 

Norpoth: Der Ruf nach mehr Druck vom Staat ist mehr als verständlich. Wir sehen im Übrigen auch in dieser Studie, dass staatliche Ermittlungsbehörden auch nicht immer so genau hingeguckt haben, wie sie eigentlich sollten. Ich glaube, der Staat muss an dieser Stelle seine Gestaltungsmacht umsetzen, um das individuelle Recht auf Aufarbeitung, die Akteneinsicht, aber auch gesetzlich definierte Standards und eine Verpflichtung für die Aufarbeitung im institutionellen Raum gesetzlich zu verankern.

Außerdem müsste der Staat diejenigen Organisation mit Restriktionen belegen, die dieser Verpflichtung nicht nachkommen, weder quantitativ, indem sie überhaupt keine Aufarbeitung betreiben, noch qualitativ, indem sie die gesetzten Standards nicht umsetzen.

Eine nationale, durch die Politik oder den Staat organisierte Aufarbeitungsstudie würde an der unfassbaren Heterogenität der unterschiedlichen Strukturen und gesellschaftsrechtlichen Fragestellungen scheitern. Ich denke es ist zielgerichteter, wenn es eine verpflichtende Aufarbeitung mit klaren, definierten Standards gibt, als wenn die Kirche als eigenständige Organisation handelt.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Bistum Essen

Das Bistum Essen ist eines der jüngsten und kleinsten unter den 27 römisch-katholischen Bistümern in Deutschland. Auch in Nordrhein-Westfalen ist es mit 1.877 Quadratkilometern und knapp 680.000 Mitgliedern das kleinste Bistum.

Es wurde am 1. Januar 1958 aus Teilen der (Erz-)Bistümer Köln, Münster und Paderborn errichtet; damals zählte die Diözese noch rund 1,5 Millionen Mitglieder.

Blick auf den Essener Dom / © frantic00 (shutterstock)
Quelle:
DR