DOMRADIO.DE: Man nimmt sich ja selten die Zeit zum Bibel lesen. Wie wird denn Zeit in der Heiligen Schrift dargestellt?
Peter Krawczack (Leiter der Abteilung Schulpastoral und Hochschulen im Erzbistum Köln): Wer jetzt denkt: Da finde ich einen Satz oder da gibt's eine Kernaussage, der liegt falsch. Die Bibel ist sehr vielschichtig und vielstimmig. Das macht sie zu einem reichen Schatz. Sie ist hochspannend und gleichzeitig auch schwierig, weil man eigentlich immer ganz viele Dinge oder verschiedene Fährten aufnehmen muss. Es gibt keine Beschreibung zum Begriff der Zeit, den ich in der Bibel finde. Zeit findet man eher im Wechsel im Jahreskreis, in der Ernte beispielsweise. Dann werden Zeitfresser beobachtet: Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter. Zeit findet man auch in der Datierung von Regierungsjahren, von Königen - also praktisch eine Zeitbemessung. Sehr viel später kommt ein philosophisches Denken über die Zeit an sich. Der Umgang mit der Zeit. Da finden wir beispielsweise das Bewusstsein, dass die Zeit des Menschen begrenzt ist: die Endlichkeit. Das kann erschrecken. Es kann mich aber auch darauf hinweisen, dass das eigene Leben eine wertvolle Zeit ist.
DOMRADIO.DE: Haben Sie ein Beispiel, wo das in der Bibel tatsächlich zu lesen ist?
Krawczack: Es gibt beispielsweise eines meiner Lieblingsbücher im Alten Testament: das Buch Kohelet. Wir haben in diesem Buch ein Gedicht über die Zeit. Da ist der Kerngedanke: Alles hat seine Zeit. Martin Buber übersetzt es mit "Alles hat seine Stunde". Darin werden verschiedenste Dinge aufgezählt. Es gibt eine Zeit zum Gebären, es gibt eine Zeit zum Sterben. Es gibt eine Zeit zum Steine werfen, eine Zeit um Steine einzusammeln.
Ich glaube, dass damit gemeint ist, das den Menschen bewusst sein sollte, dass es manchmal scheinbar gegensätzliche Dinge gibt - Leben und Tod, Frieden und Krieg, Streit und Liebe - die möglicherweise nicht zusammenpassen und die wir auch in unserer endlichen Vorstellung nicht zusammenkriegen. Aber dass es jemanden gibt, eine göttliche Macht, einen Gott, der letztlich der Herr über die Zeit ist und der dem Ganzen letztlich einen Sinn stiften kann.
DOMRADIO.DE: Gibt es denn negative Charakteristika der Zeit in der Bibel?
Krawczack: Es gibt schon etliche Texte, wie zum Beispiel den Psalm 90, wo dem Menschen deutlich wird, dass sein Leben maximal 70, 80 Jahre währt. Der Psalm weist darauf hin, dass diese Jahre viel Mühsal bedeuten und begrenzt sind. Sie sind im Vergleich zur Unendlichkeit ein winziger Punkt. Positiv ist: Auch diese Winzigkeit ist in Gottes Hand. Gleichzeitig kommt zu diesem realistischen Mensch der Aspekt: Nutze Deine Zeit und genieße sie.
DOMRADIO.DE: Wie kann ich denn die Bibel in meinen Alltag einplanen? Wie gelingt Ihnen das, regelmäßig in der Bibel zu lesen?
Krawczack: Ich bin neben meiner Tätigkeit als Abteilungsleiter auch immer noch Alttestamentler. Ich habe Theologie studiert und habe eine zeitlang über einen Lehrauftrag versucht, Studierenden etwas zum Alten Testament näherzubringen. Da beschäftigt man sich aus einer beruflichen Perspektive mit der Bibel. Ich habe aber auch versucht in Exerzitien, die ich gemacht habe, Zeit fürs Bibel lesen einzuräumen.
Wenn ich in der Bibel lesen will, ist es gut es nicht nur dem Zufall zu überlassen, sondern mehr Zeit dafür einzuplanen. Das kann am Morgen sein - ich versuche manchmal morgens mit einem Psalm anzufangen und dann einen Teil der Bibel zu lesen. Das kann aber auch im Laufe des Tages sein. Eine Möglichkeit wäre mit seiner Familie den Evangeliumstext zu lesen, bevor man in den Sonntagsgottesdienst geht. Das kann man beim Frühstück machen. Ich habe es mal in der Fastenzeit bei mir zu Hause probiert. Wir haben vier Kinder, da können Sie sich vorstellen, das da einiges los ist. Am Anfang gab es ein großes Erstaunen, und beim zweiten und dritten Sonntag waren wir noch beim Sonntag davor. Aber ich glaube, wichtig ist, dass man sich überhaupt Zeit nimmt - es nicht dem Zufall zu überlassen - und dass man eine gewisse Liebe für die Bibel mitbringt, eine Begeisterung und eine Offenheit, so einen Text zu lesen, zu hören und zu teilen.
DOMRADIO.DE: Zeitmanagement ist ein Riesenthema in unserer modernen Welt. Wir müssen uns bewusst Freiräume schaffen - für uns selber, für Gott, zum Bibel lesen. Gibts da Tipps in der Bibel, worauf wir achten sollten?
Krawczack: Ich wüsste jetzt keine Stelle, wo die Bibel vermittelt, wie man sich Zeit nehmen soll, um die Bibel selbst zu lesen. Aber es gibt deutliche Hinweise, dass der Mensch um die Begrenztheit der Zeit weiß. Und es gibt ja dieses sogenannte "Carpe Diem- Motiv", dieses "Pflücke den Tag". Da gibt es auch Hinweise im Buch Kohelet, dass der Mensch sich der Zeit bewusst sein muss und seine Zeit nicht noch voller packt, um mehr zu erreichen. Sondern dass es wichtig ist, den Moment und die Zeit, die man hat, zu einer erfüllten Zeit zu machen. Zu merken: Was ist gerade dran? Wenn ich jetzt schon beim nächsten Termin wäre, dann wäre unser Gespräch nicht so wertvoll wie es jetzt ist.
DOMRADIO.DE: Kann man heute die Geschichten, die in der Bibel stehen, eins zu eins auf unseren Alltag übertragen? Ist die Heilige Schrift noch zeitgemäß?
Krawczack: Das ist natürlich ein hochspannendes Thema. Die Bibel ist ein Dokument, das über fast 800 Jahre gewachsen ist. In der Bibel merkt man Entstehungsprozesse. Sie ist über 2000 Jahre alt. Wir merken in der Schule im Religionsunterricht, in Katechesen: Für viele jungen Menschen ist der Zugang zur Bibel kein selbstverständlicher. Es ist ein altes Dokument, aber es war immer auch Aufgabe der Bibellektüre und der Predigt sie ins Heute zu übersetzen.
Wenn man den Schöpfungshymnus gegen die Urknall-Theorie oder eine physikalische Entstehung setzt, wäre das der falsche Weg. Man muss sich der zeitlichen Entfernung zum Entstehungsort der Bibel bewusst werden. Man muss immer wieder versuchen - und da bietet die Bibel gute Gelegenheit - es ins Heute hineinzunehmen. Dabei muss man gar nicht auf Fachleute hören, sondern schauen: Wie spricht mich dieser Bibeltext an und was löst er in mir aus?