DOMRADIO.DE: "Herzschlag. Etty Hillesum - eine Begegnung", so heißt Ihr Buch, das Sie über Ihre Begegnung mit den Tagebüchern von Etty Hillesum geschrieben haben. Der Weg zum Glauben an Gott verlief für Etty nicht geradlinig, sondern hat viele Umwege. Sie bezeichnet sich selbst als Mädchen, das nicht knien konnte. Was war denn ausschlaggebend dafür, dass sie zum Glauben gefunden hat?
Bischof Heiner Wilmer (Bischof von Hildesheim): Etty Hillesum stammt aus einer völlig assimilierten jüdischen Familie. Groß geworden ist sie in dem niederländischen Provinzstädtchen Deventer. Ihr Vater war dort Schulleiter und Lehrer für Latein und Griechisch. Die Mutter stammte aus Russland, eine Migrantin. Sie sprach russisch und niederländisch mit Akzent. Aber die Provinz war Etty zu langweilig. Sie zieht dann nach Amsterdam um, in die Großstadt.
Dort lernt sie einen deutschen Juden aus Berlin kennen, Julius Spier heißt der. Spier ist ein Experte der Handlesekunst, also jemand, der aus dem Lesen der Hand versucht, Emotionen, innere Zustände zu erkunden. Damit wurde er damals schon belächelt. Spier ist auch ein Anhänger des Psychoanalytikers C.G. Jung.
Spier ist es dann auch, von dem Etty viel lernt. Spier, so sagt sie, sei der Erste gewesen, der ihr den Weg gezeigt habe, wie man ohne Scham das Wort Gott in den Mund nehmen könne. Spier ist es, der ihr sagt, tue etwas für dich selbst, habe einen Rhythmus. Wenn du morgens aufstehst, brauchst du Rituale. Also wasch dich mit kaltem Wasser ab, mache Atemübungen und versuche zu meditieren, zu beten. Und Spier legt ihr ans Herz, Tagebuch zu führen, um sich besser kennenzulernen.
Etty Hillesum sagt, sie sei seelisch verstopft gewesen. Was mich auch völlig fasziniert, sie hat keinen Bezug zu einer religiösen Institution, zu keiner Synagoge, keiner Kirche und findet doch zu einem ganz tiefen Glauben an Gott.
DOMRADIO.DE: Etty findet zu einer sehr persönlichen Spiritualität. Was bringt ihr denn den Glauben an Gott innerlich so nah?
Wilmer: Was sie überzeugt, ist, dass der Glaube zutiefst die Schönheit hochhält. Sie findet zu einem Gott, der die Herrlichkeit des Lebens selbst ist. Sie ist überzeugt davon, dass sie etwas braucht, was sich nicht aufbraucht. Sie sehnt sich nach etwas, nach einem Größeren, das nie kleiner werden kann.
Und es ist die Frage: Wie kann ich mich abhärten, ohne zu verhärten? Wie kann ich erstarken, innerlich, ohne zu erstarren? Vor allem angesichts fürchterlicher Katastrophen im Leben, angefangen bei Krankheiten bis hin zu einem drohenden Konzentrationslager. Sie ringt mit Gott, hadert mit ihm, spricht mit ihm. Und davon kündet auch ihr Tagebuch. Man merkt, sie trommelt auf Gott ein, dankt ihm aber auch, preist ihn, lobt ihn und ist total von ihm berührt, ganz konkret berührt, ganz sanft.
DOMRADIO.DE: Wichtig ist da die Schönheit des Lebens. Sie findet Trost in der Schönheit, auch angesichts des Grauens. Ihr Tagebuch erzählt von der Kunst, "wie ein Bambus im Sturm zu stehen, biegsam, aber unzerbrechlich". Wo findet Etty Hillesum denn diese Schönheit auch noch in Extremsituationen, im Arbeitslager der Faschisten?
Wilmer: Völlig verrückt finde ich eine Szene gegen Ende des Tagebuches. Wir reden hier über das endende Jahr 1942, Anfang 1943. Sie wird 1943 im Sommer deportiert und im Herbst ermordet. Und es gibt eine Szene, da geht sie durch das Lager Westerbork, das ist im Nordosten der Niederlande gelegen ist, eine karge Heidelandschaft, ziemlich trostlos.
Sie geht abends im Dunkeln am Zaun entlang und genießt die frische Luft, sie genießt den Geruch der Heide, die Sterne und ist mit ihren Gedanken bei Gott. Und sie schreibt dann darüber: "Es ist doch so wunderbar, so schön zu sehen, wie alles zusammenhängt. Das Große und das Schöne, das, was ich hier erlebe, meine Gefühle, was passiert, alles hängt zusammen".
Und sie bedankt sich auch bei ihren Eltern. Ihr Vater und ihre Mutter sind auch in Westerbork. Mit den Eltern hat sie früher fürchterlich gestritten. Eine ihrer ersten Erkenntnisse im Umgang mit der Psychoanalyse lautet: Den Eltern verzeihen und den Eltern nicht Vorwürfe machen für Dinge, mit denen man im Leben hadert und kämpft.
DOMRADIO.DE: Ihre Begegnung mit Etty Hillesum kann uns Wege zeigen, wie wir mit Hass umgehen können. Etty Hillesum ist Jüdin. Sie kommt ins Arbeitslager. Sie wird im KZ ermordet. Aber sie hat nie gehasst. Das ist Feindesliebe, wie sie kaum vorstellbar ist.
Wilmer: Jein. Am Anfang war es nicht so. Julius Spier spricht mit ihr oft darüber, wie mit dem Hass umzugehen ist. Ganz zu Beginn schreibt sie über die Deutschen, über die Gestapo und über das brutale Vorgehen der Nazis in Amsterdam, man solle diese Deutschen alle vergasen. Also genau umgekehrt.
Und sie kommt dann aber nach und nach zu der Erkenntnis, dass der Hass am Ende einen selbst vernichtet. Sie sagt: Hass kann man nicht mit Hass bekämpfen. Man kann den Wind nicht mit einem Sturm bekämpfen. Man kann den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben. Und sie sagt: Wer hasst, wirft sich selbst in ein Gefängnis. Wer andere hasst, lebt wie in einem Käfig, immer gebunden an dunkle Gefühle, gefangen in eigene dunkle Geschichten. Und ein Mensch, der ständig hasst, ist wie jemand, der um sein eigenes Herz eine Schlinge zieht und sich selbst die Luft abschnürt.
DOMRADIO.DE: "Herzschlag" heißt Ihr Buch. Sie schreiben darin: "Gott kann uns nicht helfen, sagst du", sie sprechen Etty Hillesum mit DU an, "das werde dir fast mit jedem Herzschlag klarer, dass Gott uns nicht helfen kann, denn wir müssen ihm helfen". Wie kommt sie darauf? Und wie können wir denn Gott helfen?
Wilmer: Ja, das ist eine heftige Geschichte, ziemlich am Ende ihres Tagebuches. Das schreibt sie im Juli 1942. Viele Juden in Amsterdam, die sie kennt, in der Nachbarschaft, in der Stadt, hoffen darauf, dass die Engländer kommen. Befreiung musste durch die Engländer kommen. Andere sagen: Befreiung muss durch Gott kommen. Andere wiederum sind völlig verzweifelt, trostlos. Es gibt ganz unterschiedliche Einstellungen. Sie schreibt dann in ihrem Tagebuch:
"Es sind schlimme Zeiten. Mein Gott, jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt. Aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen. Und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das Einzige, auf das es ankommt, ein Stück von dir in uns selbst zu retten. Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen".
So weit ein Zitat. Man sieht hier das Ringen. Und es ist genau umgekehrt. Wir helfen Gott. Wir sind die Hände und die Füße Gottes, die sich aufmachen zu den anderen Menschen. Also Spiritualität, ganz umgedreht, also vor allem gegen das, was herkömmlich geboten wird, auch womit ich persönlich groß geworden bin - in meiner persönlichen Frömmigkeit, in meinem Elternhaus, in der Schule, im Religionsunterricht, aber auch als Priester, auch in meiner Verkündigung am Grab. Was sage ich da? Also, das hat mich hier sehr berührt, auch erschüttert.
Gleichzeitig finde ich es faszinierend, wie Etty Hillesum im Gespräch mit Gott bleibt, sie duzt ihn, sie redet mit Gott. Das finde ich schon sehr, sehr dynamisch. Also es gibt kein einfaches Gottesbild.
DOMRADIO.DE: Es ist sehr spannend ihr Buch zu lesen, weil sich Etty Hillesums Spiritualität aus einem ganz säkular gelebten Leben entwickelt. Das macht ihr Buch sehr aktuell - und es lädt natürlich ein, die Tagebücher von Etty Hillesum im Original zu lesen. Ihr Buch ist ein Hoffnungsbuch. Welche Hoffnung haben Sie denn persönlich aus der Begegnung mit Etty Hillesum gewonnen?
Wilmer: Die Begegnung mit Etty Hillesum ist für mich eine ganz, ganz tiefe und innige Begegnung. Ich denke jetzt noch fast jeden Tag daran. Es ist auch eine sehr tröstliche Begegnung gewesen. Etty lässt sich den Sinn für Schönheit nicht rauben, sie lässt sich nicht verstimmen. Sie ist für mich eine Person, die ringt, die sich aufmacht zu anderen Menschen, die sehr, sehr solidarisch ist.
Sie ist auch eine wunderbare Zuhörerin, was ich auch großartig finde. Sie urteilt nicht. Sie verkündet keine Moral mit erhobenem Zeigefinger. Sie ist für mich zutiefst jüdisch-christlich. Sie ist Jüdin, natürlich, also zutiefst von der Tora geprägt. Das ist ein Kern ihrer Aussage, unsere Religion, das Judentum hier speziell, verkündet keine Moral, sondern Erlösung. Und es geht darum: wie stehen wir vor Gott aufrecht. Wie können wir knien und wie finden wir einen Sinn für das Schöne, das Große, die Herrlichkeit selbst, die am Ende Gott ist?
DOMRADIO.DE: Begegnet hier der kleine katholische Bruder Bischof Heiner Wilmar der großen jüdischen Schwester Etty Hillesum.
Wilmer: Definitiv. Sie ist für mich die ältere Schwester, eine großartige Frau, vor der ich mich verneige. Ich bin dankbar, dass ich ihr begegnet bin und ihr weiterhin begegne. Und sie ist anders als Anne Frank aber leider in Deutschland gar nicht bekannt. Aus meiner Sicht müssten Ihre Tagebücher Pflichtlektüre in den Schulen sein - auf einer Ebene mit den Tagebüchern von Anne Frank.
Das Interview führte Johannes Schröer.