"Natürlich kann man die Schuld des Missbrauchsskandals nicht vergemeinschaften", sagte Bischof Heiner Wilmer der Zeitung "Die Tagespost" am Donnerstag. Es seien immer Einzelne, die Missbrauch begehen. "Doch die Frage ist: In welchem Rahmen ist das geschehen? Und wie hat die Institution reagiert?"
Selbstbild einer "perfekten Gesellschaft" geprägt
Das sei "sehr komplex" und dürfe auch nicht vereinfacht werden, betonte Wilmer. "Es ist falsch zu sagen: Es liegt nur am System. Genauso falsch ist es zu sagen: Es waren nur Einzelne, das System hat nichts damit zu tun.".
Der Bischof führte aus, über einen langen Zeitraum habe die Kirche das Selbstbild einer "perfekten Gesellschaft" gepflegt, der "societas perfecta". Und natürlich "sind wir als Kirche auch heilig von Gott her; aber wir sind ja auch zerbrechlich und versündigen uns auch". Sowohl als Einzelne wie auch als Institution könnten Kirche und Christen schuldig werden. "Sonst wäre die Kirche ja nur abstrakt", argumentierte Wilmer.
Eine Priesterausbildung geprägt von unterschiedlichen Spektren
Mit Blick auf die Priesterausbildung hatte der Hildesheimer Bischof zuletzt vor einer "theologischen Inzucht" gewarnt. Dazu führte er nun im Interview aus, der Jesuit Charles Lohr (1925-2015), der dieses Wort prägte, habe für "intellektuelle Weite" geworben. Deutschsprachige Theologen dürften nicht nur deutschsprachige Theologen lesen. In der akademischen Theologie sei es "wichtig, dass wir den französischen, spanischen, italienischen und polnischen Sprachraum im Auge behalten". Entsprechend müsse mehr theologische Literatur ins Deutsche übersetzt werden, so Wilmer. "Gerade in der Ausbildung sollten wir die unterschiedlichen Spektren und Lager anschauen - und auch lesen."
Zur praktischen Ausbildung bezeichnete er es als entscheidend, "dass Priester, Diakone, Pastoralassistenten und Gemeindereferenten zumindest Teile ihrer Ausbildung gemeinsam absolvieren". Schließlich seien sie später auch "gemeinsam in Gemeinden und geistlichen Zentren tätig". Zudem reiche akademische Ausbildung allein nicht aus. Gute, also aus Erfahrung gespeiste geistliche Begleitung, so der Bischof, sei "ein Schlüssel der Verkündigung".
"Laudato si" Schlüsseltext der neueren Papstgeschichte
Bischof Wilmer sieht in der Umwelt-Enzyklika "Laudato si" von Papst Franziskus einen "Schlüsseltext der neueren Papstgeschichte". Kein Text eines Papstes sei in den vergangenen 40 Jahren außerhalb der Kirche so stark rezipiert und wertgeschätzt worden. Offenbar habe Franziskus mit dem Lehrschreiben von 2015 "einen Ton getroffen, der die Welt in Schwingung bringt und viele Menschen beflügelt und begeistert", so der Ordensmann.
Zur Kritik etwa von Wissenschaftlern, die die These vom menschengemachten Klimawandel ablehnen, sagte Wilmer: "Immer, wenn sich die Kirche einmischt in die Belange der Menschen, erhält sie nicht nur Zustimmung." Eine "Dynamik des Unterschiedlichen" gehöre zur kirchlichen Verkündigung dazu. Der Hildesheimer Bischof wörtlich: "Ich bin immer dann skeptisch, wenn Lösungen einfach sind. Es ist gut, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, auch wenn wir als Kirche nicht die Patentlösung haben."
"Laudato si" gilt als die erste päpstliche Umwelt-Enzyklika. Das Schreiben ist aber auch eine "grüne Sozialenzyklika", denn Franziskus vertritt darin eine "ganzheitliche Ökologie" aus der Sicht der Ärmsten. Aus Sicht von Franziskus kann man über Umweltschutz nicht sprechen, ohne soziale Gerechtigkeit, das globale Wirtschaftssystem, die Flüchtlingsproblematik und die Menschenrechte in den Blick zu nehmen.