KNA: Was beschäftigt Sie in diesen Tagen vor Ostern besonders?
Bischof Heiner Wilmer (Bischof von Hildesheim): Mich berührt der plötzliche und unerwartete Tod von Anna R., der Sängerin von Rosenstolz. Sie wurde am 16. März tot in ihrer Berliner Wohnung gefunden, mit nur 55 Jahren. Ihr Tod hat viele Menschen erschüttert. In den Sozialen Medien äußern Hunderttausende ihre Solidarität. Die Reaktionen zeigen, wie sehr sie durch ihre Musik die Herzen der Menschen erreicht hat.
KNA: Was hat das mit Ostern zu tun?
Wilmer: Ich sehe Parallelen zwischen ihrem Schicksal und dem Tod Jesu, an den wir in der Karwoche erinnern: die Einsamkeit, die Fragen nach dem Warum, das Fehlen eines Abschieds. Anna R. stand für Resilienz und Feingefühl. Rosenstolz hat Themen wie Homophobie und Frauenfeindlichkeit angesprochen und mit ihrer Musik unzählige Menschen tief bewegt. Lieder wie "Wir sind am Leben" oder "Die Suche geht weiter" spiegeln Sehnsüchte und Hoffnungen wider, die auch in unserem Glauben zentral sind und die wir an Ostern feiern.

KNA: Warum gelingt es einer Band wie Rosenstolz, mit diesen Botschaften die Massen zu erreichen, während die Kirche oft Mühe damit hat?
Wilmer: Das gelingt der Kirche doch auch. Schauen Sie beispielsweise auf Carlo Acutis, einen jungen Italiener, der 2006 mit 15 Jahren an Leukämie starb. Er betete und nutzte digitale Medien, um seinen Glauben zu verbreiten. Manche nennen ihn den "Cyber-Apostel" oder den "Influencer Gottes".
Papst Franziskus hat seine Heiligsprechung für den 27. April angesetzt, und er wird weltweit als Vorbild gesehen. Was für ein Trost für Jugendliche, wenn sie sich an diesem jungen Mann orientieren können. Er schaut in eine ähnliche Richtung wie Rosenstolz, aber stärker aus dem Glauben heraus.

KNA: Kann die Kirche etwas von Rosenstolz lernen?
Wilmer: Wir machen Tag für Tag viele Dinge, die Rosenstolz in ihren Songs thematisiert. Die Kirche hört den Menschen zu, auch den leisen Tönen. Seelsorgerinnen und Seelsorger bieten Raum für das Unsagbare - in Krankenhäusern, Altenheimen, Gefängnissen oder Gemeinden. Das Herz spricht zum Herzen, dafür sind wir in der Kirche da und bei den Menschen.
KNA: Papst Franziskus war zuletzt fünf Wochen im Krankenhaus. Was bedeutet seine Krankheit für Sie und für die Kirche?
Wilmer: Seine Krankheit zeigt mir die Vergänglichkeit des Lebens. Auch ich muss damit rechnen, dass ich älter werde und meine Kräfte abnehmen. Beeindruckend ist, wie er seine Situation annimmt, den Mut nicht verliert und weiterhin eine unglaubliche Wärme ausstrahlt. Er leitet die Kirche wie gewohnt weiter. Der Papst ist geistig wach und frisch.

KNA: Franziskus hat 2021 einen Reformprozess in der katholischen Kirche angestoßen, die sogenannte Weltsynode. Gerade hat er sie bis 2028 verlängert. Dauert das nicht alles viel zu lange?
Wilmer: Wir sind 1,4 Milliarden Katholiken. Teilhabe und Kommunikation erfordern Zeit. Das gehört dazu, wenn man möchte, dass alle mit am Tisch sitzen, und man Wert darauf legt, dass die Gruppe beieinanderbleibt.
KNA: Also finden Sie es richtig, dass der Papst die Synode verlängert hat?
Wilmer: Ich finde es stark, und es stimmt mich sehr zuversichtlich. Die Synode hat die Kirche schon jetzt verändert. Sie hat einen neuen Stil des Umgangs geschaffen, und dieser Stil wird auch in Zukunft das Leben der Kirche prägen.
KNA: In Hannover und damit in Ihrem Bistum findet vom 30. April bis zum 4. Mai der Evangelische Kirchentag statt. Wie blicken Sie darauf?
Wilmer: Ich freue mich sehr auf dieses Ereignis und auf die Begegnungen. Ich erhoffe mir starke Impulse für die Ökumene, den Glauben und die Stimmung in unserem Land - auch für die Menschen, die nicht in der Kirche sind. Angesichts der veränderten Weltlage, die mit vielen Unsicherheiten und Zweifeln verbunden ist, brauchen wir Zuversicht und Hoffnung.
KNA: In Berlin haben sich Union und SPD darauf geeinigt, künftig auch Asylbewerber an den Grenzen zurückzuweisen. Wie stehen Sie zu dem Thema?
Wilmer: Wir sind ein Migrationsland und werden das auch bleiben. Unsere biblische Tradition verpflichtet uns dazu, Menschen aufzunehmen. Gleichzeitig muss man realistisch sagen: Unser Herz ist groß, aber unsere Möglichkeiten sind nicht grenzenlos. Deshalb bedarf es einer ehrlichen Debatte ohne populistische Zuspitzungen. Das Thema ist komplex und eignet sich nicht für Stammtischparolen.

KNA: Klimaschutz spielte im Wahlkampf keine große Rolle, und auch während der Koalitionsverhandlungen hörte man nicht viel davon. Tut die Politik hier genug?
Wilmer: Grundsätzlich sollten wir sowohl den Schrei der Erde als auch den Schrei der Armen hören. Auch die Haltung jeder und jedes Einzelnen ist wichtig. Wie lebe ich? Was esse ich? Wie gehe ich mit Müll um? Wie gestalte ich meinen Tag? Wie reise ich? Und wie informiere ich mich über Menschen, die jenseits von Europa leben?
KNA: Kann Verzicht in diesem Zusammenhang eine wirksame Strategie sein?
Wilmer: Ja. Weniger ist mehr - diese Haltung ist in unserer jüdisch-christlichen Tradition verankert. Was das konkret bedeutet, bleibt dem Gewissen jeder und jedes Einzelnen überlassen.
KNA: Ostern ist ein Fest der Hoffnung. Wo sehen Sie heute in der Welt Zeichen der Hoffnung?
Wilmer: Ostern sprengt einfach alles. Die Frauen in der Bibel, die zum Grab gehen, machen sich Sorgen um den schweren Stein vor dem Grab. Sie erwarten, einen Toten zu sehen. Diese Erwartung wird vollkommen gesprengt: Kein Stein, kein Tod, sondern Leben. Nicht nur für Jesus, sondern für uns alle. Das ist die Quelle unserer Hoffnung.
Hoffnungszeichen des Lebens gibt es da, wo unsere Erwartungen übertroffen werden, wo wir ins Staunen geraten, bei völlig unerwarteten Begegnungen oder auch in der Natur: Ich genieße es, im schönen Harzer Vorland mit dem Rad zu fahren oder die Formationsflüge der Wildgänse zu beobachten.
KNA: Gibt es eine Ostertradition, die Sie besonders geprägt hat?
Wilmer: Als Junge hat mich immer beeindruckt, wie gestandene Männer in meiner emsländischen Heimatgemeinde zu Ostern das Lied "Das Grab ist leer, der Held erwacht" schmetterten - oft schief, aber mit einer solchen Wucht, dass es mich zutiefst ergriffen hat. Diese Freude über die Auferstehung fand ich absolut stark.