Bislang gab es keine umfassende Aufarbeitung der Corona-Pandemie

"Nicht gegenseitig Fehler vorwerfen"

Caritas-Präsidentin Welskop-Deffaa beschreibt die Corona-Pandemie als Wendepunkt. Experten raten in Zukunft zu mehr Krisenvorsorge. Die nächste Krise könnte unvorbereitet treffen, wenn niemand Verantwortung für Fehler übernehmen will.

Autor/in:
Volker Hasenauer
Corona-Schnelltest / © Fabian Strauch (dpa)
Corona-Schnelltest / © Fabian Strauch ( dpa )

Die Aufarbeitung des Afghanistan-Abzugs waren dem Deutschen Bundestag einen Untersuchungsausschuss und eine Enquetekommission wert gewesen. Die Corona-Pandemie nicht. Zwar gab es (zaghafte) Anläufe; aber letztlich besiegelte der Ampel-Koalitionsstreit das Aus einer breiten, politischen Analyse jener weltweiten Pandemie, die von Anfang 2020 bis Ende 2022 auch Deutschland vielfach lahmlegte. Auch die kommende Bundesregierung dürfte andere Prioritäten setzen.

So bleiben nur Initiativen einiger Landtage sowie verschiedene Einzelstudien zu Detailfragen. Untersuchungen von Psychologen und Pädagogen über Folgen der Corona-Schulschließungen haben kein breites politisches Echo ausgelöst. Auch die Pläne, das Infektionsschutzgesetz zu reformieren, um besser auf mögliche neue Pandemien vorbereitet zu sein, versandete vollständig. Obwohl es in der juristischen Wissenschaft entsprechende Vorschläge gibt. Etwa von der geschäftsführenden Direktorin des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht, Andrea Kießling.

Ethikrat formulierte konkrete Empfehlungen

Am vielleicht umfassendsten packte der Deutsche Ethikrat in seiner im Februar 2022 veröffentlichten Stellungnahme jene Fragen an, die durch die Pandemie und staatliche Reaktionen aufgeworfen wurden. So hielt er beispielsweise fest, dass junge Menschen besonders unter Einschränkungen ihrer Ausbildungswege und ihres Soziallebens litten. 

Der Ethikrat formulierte konkrete Empfehlungen: So müssten etwa alle angesichts einer Pandemie getroffenen Schutzmaßnahmen immer wieder auf Wirksamkeit, Angemessenheit und langfristige Folgen überprüft werden. Auch müssten Einrichtungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen "krisenrobuster" werden, so die Forderung des Ethikrats vor fast drei Jahren.

Statt solche Forderungen zu diskutieren und anzupacken, scheint sich individuell wie gesellschaftlich ein Schleier des Vergessens und Verdrängens über das zu legen, was vor genau fünf Jahren begann und in bis dahin kaum vorstellbarer Weise das Leben aller veränderte.

Corona-Folgen

Wer erinnert sich noch an die Unterschiede von 2G oder 3G? Wie viele Menschen durften sich unter dem Christbaum 2021 treffen, um Weihnachten zu feiern? Wie war das mit der weltweiten Reisewarnung? Wie einsam war es in den Pflegeheimen? Warum waren Spielplätze mit rotweißem Flatterband abgesperrt? Bei welcher Wocheninzidenz galt die nächtliche Ausgangssperre? Und wie viel länger blieben die deutschen Schulen im Vergleich zu europäischen Nachbarländern zu?

Eva Maria Welskop-Deffaa / © Jannis Chavakis (KNA)
Eva Maria Welskop-Deffaa / © Jannis Chavakis ( KNA )

Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) bezeichnete Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa die Pandemie als einen Wendepunkt für politische und gesellschaftliche Debatten: im Mit- oder Gegeneinander der Generationen, in der Rückkehr und Befestigung nationaler Grenzen oder im Nachdenken über die Leistungsfähigkeit von Gesundheitswesen und Digitalisierung.

Gleichzeitig ist für sie offenkundig: Die Corona-Folgen sind heute viel größer, "als wir alle uns das zugestehen möchten". Auch der Caritasverband müsse mehr tun, um die Jahre der Pandemie aufzuarbeiten und so die eigene Arbeit besser für die nächste Krise aufzustellen.

Digitalisierung und Vorbereitung

Welskop-Deffaa warnte aber davor, sich in der Aufarbeitung nur gegenseitige Fehler vorzuhalten. "Wenn wir eine solche Debatte befeuern, können wir sicher sein, dass in der nächsten Krise mehr Versagen entsteht. In einem Klima ängstlicher Vorsicht, bloß nichts falsch zu machen, ist niemand bereit, mutig Verantwortung zu übernehmen."

Schonungslos hatte die Pandemie offengelegt, wie wenig digital Deutschland aufgestellt war. Auch wenn die US-Konzerne mit Teams und Zoom schnelle Lösungen ausrollten und ihre Videokonferenzprogramme heute Säulen von Telearbeit in allen Arbeitsfeldern bilden. Auch die Caritas versuche, so ihre Präsidentin, ihre eigenen Digitalisierung voranzubringen, um Beratung und Begleitung innovativ und kundenorientiert zu organisieren. Doch vielfach fehle es hier an Mitteln für dringende Investitionen.

Und noch eine Sorge treibt Welskop-Deffaa um: Wenn schon im Normalbetrieb Kliniken, Pflegedienste oder Schulen finanziell und personell im dauerhaften Überlastungsmodus laufen, wie sollen wir dann die nächste Krise meistern? "Wir brauchen Puffer und Spielräume. Und die müssen wir auch finanzieren können. Das gilt auf der Kinderintensivstation genauso wie in den Altenpflegeeinrichtungen", sagt die Caritas-Chefin - und trifft sich dabei mit der Forderung nach Krisenrobustheit des Ethikrats. Ob das angesichts der aktuellen Multikrisen von Ukraine-Krieg, Inflation und Klimawandel gelingt, wird erst die nächste Bundesregierung beantworten können.

Vielleicht kann auch die unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten im Oktober gestartete "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" einige Impulse setzen. In den kommenden Monaten wollen Arbeitsgruppen konkrete Empfehlungen für Klimapolitik, Digitalisierung und zum gesellschaftlichen Wandel erarbeiten. Initiiert wurde das Projekt unter anderem vom Juristen Andreas Voßkuhle sowie den früheren Bundespolitikern Thomas de Maiziere und Peer Steinbrück. Welskop-Deffaa beteiligt sich in der Arbeitsgruppe "Soziales und Bildung".

Quelle:
KNA