Seit dem Fund menschlicher Knochen auf dem Gelände der vatikanischen Botschaft in Rom überbieten sich Medien mit immer neuen Vermutungen. Sind es die Überreste der vor 35 Jahren spurlos verschwundene Emanuela Orlandi, der Tochter eines Vatikan-Angestellten? Nähert sich damit einer der spektakulärsten Kriminalfälle Italiens dem Ende? Oder gehören die Knochen zu Mirella Gregori, einer anderen Jugendlichen, die 1983 vier Wochen vor Emanuela verschwand? Oder zu einem verschwundenen Mädchen aus den 1990er Jahren?
Sind es gar die Überreste der Frau eines früheren Hausmeisters der Nuntiatur? Das Ehepaar soll oft lautstark gestritten haben, bis Mitte der 1960er Jahre die Frau plötzlich fort war. Und dann gibt es noch den Hinweis, das Gelände der Botschaft sei früher mal ein Friedhof gewesen; da fänden sich schon mal Knochen ... Soweit die derzeit häufigsten Hypothesen.
Bei Arbeiten auf dem Gelände der Vatikanischen Botschaft
Derweil warten alle auf das Ergebnis einer DNA-Analyse. Dieses wird aber nicht vor Anfang nächster Woche erwartet. Aus Kreisen der Forensiker wollen Medien erfahren haben, das fast intakte Skelett könne aufgrund der Beckenknochen einer jungen Frau zugeordnet werden. Gefunden wurde das Skelett sowie etwas davon entfernt einige andere menschliche Knochen bei Arbeiten in einem Nebengebäude auf dem Gelände der Vatikanischen Botschaft.
Am Montagnachmittag waren vier Arbeiter etwa einen halben Meter unter dem Fußboden eines Kellerraumes, den sie erneuern sollten, auf die Knochen gestoßen. Wie der Vatikan am Dienstabend mitteilte, hätten vatikanische Stellen daraufhin sofort die italienischen Behörden informiert. Staatsanwalt Giuseppe Pignatone leitete eine kriminaltechnische Untersuchung ein, um Alter und Geschlecht der gestorbenen Person sowie den möglichen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Außerdem begannen Ermittlungen wegen Mord-Verdachts gegen unbekannt.
Stichwort "Emanuela Orlandi"
Die beliebte Fernsehsendug "Chi l'ha visto?" (Wer hat sie gesehen?) lebt seit Tagen von den "Knochen in der Nuntiatur", ruft beständig zu weiteren Hinweisen auf. Fast jede Meldung, jeder Tweet beginnen mit dem Stichwort "Emanuela Orlandi", obschon bislang nicht einmal das mögliche Todesdatum der gestorbenen Person bekannt ist.
Um den Fall Emanuela Orlandi ranken sich zahlreiche Gerüchte und Vermutungen. Emanuela, die vatikanische Staatsbürgerin war, verschwand am 22. Juni 1983 nach dem Besuch einer Musikschule spurlos. Bald meldeten sich angebliche Entführer, die eine Freilassung des türkischen Papstattentäters Ali Agca forderten. Später hieß es, das Mädchen sei von der Mafia-Bande der Magliana entführt, kurze Zeit später getötet und im Küstenstädtchen Torvaianica einbetoniert worden.
Viele Fragen offen
Bis heute sind viele Fragen offen. Die italienische Justiz nahm im Mai 2012 nochmals Ermittlungen auf, nachdem in der Hauskirche der römischen Opus-Dei-Universität im Grab des Chefs der Magliana-Bande, Enrico De Pedis, fremde Knochen gefunden wurden. Vermutungen, es handele sich um Überreste Orlandis, erwiesen sich als falsch. Jetzt heißt es, De Pedis habe mal unmittelbar neben der Nuntiatur gewohnt.
Die Apostolische Nuntiatur bei der Republik Italien befindet sich an der Via Po im Stadtteil Pinciano auf einem 22 Hektar großen ummauerten Parkgelände, das exterritoriales Gebiet des Heiligen Stuhls ist. Vermacht wurde es Papst Pius XII. 1949 von dem Turiner Unternehmer und Senator Isaia Levi zum Dank dafür, das die Kirche im Zweiten Weltkrieg Tausende Juden versteckt hatte.
Sollten die Überreste tatsächlich von Emanuela Orlandi stammen, der DNA-Abgleich mit ihrem Bruder könnte das belegen, geriete der Vatikan tatsächlich in Erklärungsnot. Eine Anwältin der Familie, Laura Sgro, hat erklärt, man verlange "von der Staatsanwaltschaft und dem Vatikan Auskunft darüber, unter welchen genauen Umständen die Knochen gefunden wurden und wie deren Auffinden mit dem Verschwinden von Emanuela Orlandi oder Mirella Gregori in Verbindung gebracht wird". Vielleicht aber zerschlägt sich der Verdacht erneut, wie schon so oft im "Fall Emanuela Orlandi".