Kulturschaffende trifft Corona besonders hart

Briefträger statt Domführer

​Den Gang zum Jobcenter finden viele unwürdig – Hartz IV auch. Was tun, fragen sich zurzeit viele beschäftigungslose Künstler, wenn ein Auftrag nach dem anderen wegbricht. Wer überleben will, macht da oft aus der Not eine Tugend.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Führung im Kölner Dom / © Tjalke Weber (KNA)
Führung im Kölner Dom / © Tjalke Weber ( KNA )

Wenn Markus Eckstein über die Dächer des Kölner Doms führt, die kostbaren Monstranzen der Domschatzkammer erklärt oder über das Geläute der größten frei schwingenden Glocke der Welt referiert, ist der Kunsthistoriker ganz in seinem Element. Im berühmtesten Wahrzeichen Deutschlands kennt er fast jeden Stein. Und auch wichtige Jahreszahlen spult er, ohne mit der Wimper zu zucken, nur so runter. Der 56-Jährige ist durch und durch mit dem vertraut, was er Touristengruppen aus allen deutschsprachigen Ländern nahe bringen will: den Herzschlag der Rheinländer, gegossen in gotische Spitzbögen und Fialen, und gewissermaßen Ecksteins Steckenpferd.

Doch so wie er in die mittelalterliche Geschichte der Kölner Dombaukunst eintaucht, kann er sich auch für die Kapellen im Bergischen Land, die Kathedralen an der Loire, die kunsthistorischen Besonderheiten Georgiens oder das frühe Christentum in Istanbul begeistern. Hauptsache, er kann von dem erzählen, was ihn als studierter Magister Artium in den Fächern Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie immer schon gefesselt hat, und andere mit der eigenen Leidenschaft für Baudenkmäler, aber auch die großen übergeordneten kulturhistorischen Zusammenhänge anstecken.

Als Selbständiger ist kein Tag wie der andere

Vor über 25 Jahre hat sich Eckstein, der auch als Autor arbeitet, auf Führungen aller Art spezialisiert. Selbst in völlig neue Themengebiete arbeitet sich der „freischaffende Künstler“ als der er sich selbst gerne mit Augenzwinkern bezeichnet, umgehend ein, ist fleißig, wenn ein Auftrag reinkommt, der erst einmal eine sorgfältige Recherche und umfangreiches Lektürestudium erfordert. Aber auch davor macht sich der Architekturexperte nicht bang. Er liebt, was er tut, und hat sich auf diese Weise im Laufe der Jahre einen breit angelegten Wissensfundus zueigen gemacht, aus dem er nach Belieben schöpfen kann.

Schließlich bedarf es in seinem Metier, der Kultur, neben einer gewissen Flexibilität auch einer gehörigen Portion Mut, sich als Selbständiger gut über Wasser zu halten und für eine anhaltend zufriedenstellende Auftragslage zu sorgen. „Dabei hatte ich immer die Vorstellung, auf mehreren Säulen gleichzeitig stehen zu wollen. Das macht unabhängig und lässt auch verschmerzen, wenn eine mal wegbricht“, erklärt Eckstein gelassen.

Als Freiberufler mit Disziplinen in einer Branche Fuß zu fassen, die gemeinhin als „brotlos“ gilt und oft keine großen Sprünge erlaubt, ist schon ein echtes Kunststück. Trotzdem ist das dem Vater zweier Kinder, der unter anderem regelmäßig für das Katholische Bildungswerk Köln, die Bensberger Thomas-Morus-Akademie, „Kölner ab 55“ oder „Conti-Reisen“ unter Vertrag steht, gelungen. „Ich wollte immer inhaltlich arbeiten und am liebsten auch mein eigener Herr sein“, gesteht Eckstein. „Eigentlich ging dieses Konzept bislang wunderbar auf, auch wenn man auf diese Weise natürlich manchmal von der Hand in den Mund lebt und kein Tag wie der andere ist.“ Traumgagen habe er für das, was er tue, nie kassiert. Aber als sprichwörtlich „armer Poet“ habe er sich auch nie gesehen.

Mit dem Lockdown brach jede Struktur weg

Bis Mitte März der Lockdown beginnt. Und von jetzt auf gleich alle Veranstaltungen, für die der Kunsthistoriker schon lange gebucht war, wegbrechen. Reisen werden storniert, Führungen eingestellt und Vorträge erst einmal auf Eis gelegt. „Dass alles schließen, das kulturelle Leben vollkommen zum Erliegen kommen würde, habe ich mir bis einen Tag vorher nicht vorstellen können. Völlig undenkbar schien das“, erinnert sich Eckstein an den ersten Schock, als er begreift, dass die nun drohende Verdammung zur Untätigkeit unweigerlich in eine finanzielle Notlage führen wird. Denn schnell ist klar, dass alle Aufträge bis auf wenige Schreibtischarbeiten, die von zuhause aus erledigt werden können, erst einmal abgesagt werden und er damit jede Erwerbsgrundlage verliert. „Ich war zunächst nicht panisch, habe aber dennoch sofort die existenzielle Bedrohung begriffen, die dahinter steckte“, so der Familienvater.

„Grundsicherung beantragen kam nicht infrage und auch die Anmeldung von Privatinsolvenz nicht. Mit einem Mal brach alle Struktur weg. Gerade auch wegen der Familie – zwei Kinder, die beim Homeschooling betreut werden mussten – brauchte ich umgehend eine Alternative. Und eine Perspektive.“ Mit Bitterkeit merkt Eckstein an, „dass die Kulturbranche das erste ist, was dicht gemacht, und das letzte, was wieder geöffnet wird“. Und er habe schnell gewusst, so sagt er, dass bis Ende des Jahres dieser Sektor nicht zur gewohnten Normalität zurückkehren, er als Selbständiger von den staatlich in Aussicht gestellten Hilfen nicht profitieren und durch jedes Maßnahmenraster fallen würde.

„Trotzdem muss doch irgendetwas gehen“, habe er sich selbst Mut zugesprochen und motiviert, den Kopf nicht in den Sand zu stecken. „Die eigentliche Herausforderung bestand darin, Geduld aufzubringen, um eine Phase zu überbrücken, deren Ende noch immer nicht annähernd absehbar ist“, so Eckstein.

Alle freuen sich, wenn der Briefträger kommt

Bei Stellengesuchen der Post wird er fündig. Im Nachbarort wird ein Postzusteller gebraucht. Zweimal habe er darüber schlafen müssen, dann seine Bewerbung eingereicht. „Mit dem Fahrrad an der frischen Luft unterwegs zu sein finde ich super“, sagt Eckstein, der schnell Gefallen an seiner neuen Arbeit findet. Immerhin sichert sie ihm – bei einem Beschäftigungsumfang von 50 Prozent – in Corona-Zeiten ein verlässliches Auskommen und erlaubt, sich neben der Pflicht weiterhin auch um die Kür zu kümmern. Und auch sonst gebe es nur Vorteile, findet er: eine klar definierte Tätigkeit in einem vorgegebenen Zeitrahmen und – anders als beispielsweise bei der Polizei – kein Akzeptanzproblem in der Bevölkerung. Auch bezahlten Urlaub habe er in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten seiner Selbständigkeit noch nie gehabt.

„Postbote ist ein anerkannter Beruf, und alle freuen sich, wenn der Briefträger kommt“, lacht Eckstein. Gerade weil die Menschen kaum noch postalisch miteinander korrespondierten, sei ein handgeschriebenes Kuvert heutzutage etwas Besonderes und würde oft mit einem freundlichen Gruß über den Gartenzaun in Empfang genommen. Nicht umsonst hätten Maler wie Spitzweg eine solche Genreszene festgehalten. Auch in der Literatur käme dem Zusteller – beispielsweise von Liebesbriefen – eine herausgehobene Bedeutung zu.

Beruf des Briefträgers hat eine zutiefst soziale Komponente

Schließlich rühre aus der Antike die Vorstellung vom Boten als Archetypen, der damals als Überbringer von Nachrichten galt und aus der Kulturgeschichte nicht wegzudenken sei, erläutert der Bildungsexperte. Außerdem erlebe er fast täglich bei seinem Dienst, dass der Postbote für viele alte und einsame Menschen noch der einzige Kontakt zur Außenwelt sei, so dass dieser Beruf auch eine zutiefst soziale Komponente habe, geradezu etwas Seelsorgliches. Zudem sei er ein gutes Kontrollsystem, wenn ein Nachbar schon länger nicht mehr vor der Tür gesehen worden sei.

Das Tollste aber sei, findet Eckstein, wenn die Kiste mit den Briefen am Ende des Tages leer sei und es damit ein greifbares Erfolgserlebnis gebe; eine Erfahrung, die er in dieser Unmittelbarkeit so aus seiner Arbeit im Kulturbereich nicht kenne. Und dann habe dieses tägliche Einerlei auch etwas Verlässliches, das geradezu beruhigend sei.

In Pandemie-Zeiten muss man Phantasie entwickeln

„Nix esu schläch, dat et nit für jet jot es.“ Nach diesem kölschen Motto nimmt Eckstein seine Lage mittlerweile auch mit Humor. „Die Stelle bei der Post entlastet mich und macht Spaß. Ich betrachte sie als eine Art Auszeit, die ich mir nun nehme, ohne mir da selbst ein Limit zu setzen, wie lange ich das noch mache. Was ich sonst als Domführer oder Reiseleiter erlebe, läuft immer auf eine hochkonzentrierte Performance hinaus, bei der ich ständig auf ein Output hinarbeite. Das geht oft an die Kraft. An dieser Stelle mal auf den Rest-Knopf zu drücken ist eine eher wohltuende Erfahrung.“

Trotzdem wolle er seine eigene Situation und auch die vieler Kollegen, die zum Teil dramatische Zeiten durchlebten, nicht bagatellisieren. Im Gegenteil. „Durch den Lockdown der kompletten Kulturszene liegt ihr Einkommen bei Null. Und viele können sich nicht dazu durchringen, Hilfe vom Jobcenter anzunehmen.“ Das könne er nur allzu gut verstehen. „Die Kulturschaffenden trifft Corona besonders hart. Trotzdem will ich dazu ermutigen, alternative Ideen zu entwickeln. In Pandemie-Zeiten muss man improvisieren, Phantasie entwickeln und manchmal auch aus der Not eine Tugend machen.“

 

Domführer Markus Eckstein ist in der Corona-Zeit als Postbote unterwegs. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Domführer Markus Eckstein ist in der Corona-Zeit als Postbote unterwegs. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR