DOMRADIO.DE: Sie begleiten schon seit langem Trauernde auf ihrem schweren Weg und haben aus dieser Erfahrung eine Charta für Trauernde herausgefiltert. Was ist das für eine Charta?
Schwester Theresita Maria Müller (Begleiterin von Trauernden und Buchautorin): Die "Charta für Trauernde" beschreibt die Rechte von Trauernden. Vielleicht kann man sie mit der Pflegecharta, dem Katalog von Rechten für hilfs- und pflegebedürftige Menschen, die es ja in Deutschland gibt, vergleichen: Dass Trauernde auch das Recht haben zu trauern, wie und solange sie es wollen und brauchen.
DOMRADIO.DE: Im Artikel Nummer 1 heißt es: "Jeder und jede trauert anders. Es gibt keine richtige oder falsche Art zu trauern." Warum ist das so fundamental wichtig?
Müller: Ich bin überzeugt: Jeder Mensch ist ein Individuum, einmalig und wertvoll. Und keiner ist völlig gleich. Und darum hat jeder ein Recht, auf seine Art zu trauern. Das heißt für mich bei aktuell ca. 7,9 Milliarden Menschen auch: auf 7,9 Milliarden Arten zu trauern. Es ist mein eigenes Recht wie es auch mein eigenes Recht ist, so zu leben, mich zu freuen und zu lachen wie ich es brauche.
DOMRADIO.DE: In Ihrem neuen Buch "Wenn alles still steht. Wege aus Schmerz und Trauer" unterfüttern Sie sozusagen jeden Artikel dieser Charta mit ganz individuellen Trauergeschichten. Besonders hart ist es, wenn Eltern erleben, dass eines ihrer Kinder nicht mehr weitermachen will und sich selbst das Leben nimmt. Auch so eine Geschichte erzählen sie.
Müller: Ja, zum Beispiel von Elisabeths Sohn. Der ist psychisch krank und suizidiert sich mit 19 Jahren. Und diese Elisabeth erzählt dann im Interview mit mir, wie viel Positives sie auch erfahren hat, wenn andere Familien ihnen begegnet sind und die sie gestützt haben. Und sie sagt: "Wir haben uns nie gefragt, was wir falsch gemacht haben. Man darf sich nicht selbst anklagen. Ich dachte immer, dass Alexander diesen Weg gehen muss." Und das fand ich sehr tröstlich, wie viel Kraft sie in sich selber, in ihrem Zusammenhalt, gefunden haben. Und davon gibt es so viele Geschichten von Suiziden.
DOMRADIO.DE: Dann gibt es eine andere Geschichte von einer Mutter, deren Sohn ermordet wurde.
Müller: Genau, das hat mich unheimlich beeindruckt, wie die mit dem Tod ihres Sohnes umgeht. Das ist eine französische Sängerin, die schon seit ganz, ganz vielen Jahren in Hamburg lebt und deren Sohn mit 16 Jahren ermordet worden ist. Das ging als "Alstermord" durch die ganze deutsche Presse vor sechs, sieben Jahren. Und sie sagt zum Beispiel: "Ich hasse den Mörder nicht" - der übrigens bis heute nicht gefasst worden ist - "Ich will das Liebesband zu meinem Sohn nicht mit meiner Wut beschmutzen". Dieser Satz hat mich kolossal beeindruckt.
Und wie sie schreibt, wie es ihr nach einem Jahr nach Victors Tod ging und wie sie auch immer noch Verbindung hat und wie man lernen kann, Verbindungen zu den Verstorbenen zu leben. Sie hat ein Lied geschrieben und das mir auch für das Buch geschickt, "Fais-moi signe" - gib' mir ein Zeichen". Das ist ganz, ganz berührend und ermutigt auch andere, sich Zeichen geben zu lassen und Verbindung mit den verstorbenen Lieben aufzunehmen.
DOMRADIO.DE: Wir können hier leider nicht alle Geschichten erzählen, dazu muss man das Buch lesen. Aber wir können vielleicht sagen, warum es für Trauernde hilfreich sein kann, von anderen zu hören, die auch einen Menschen verloren haben.
Müller: Ich habe im Vorwort des Buches geschrieben, dass das Buch ein Buch der Gefährtenschaft sein will, weil es hilfreich ist, sich mit anderen zu vernetzen; zu wissen, wie andere trauern und dass es anderen auch schlecht gegangen ist; dass man nicht alleine so unendlich tief trauert und leidet. Es gibt auch andere und die haben es auch geschafft. Sich ein bisschen orientieren an anderen und vielleicht auch sehen, andere haben das so gemacht und das kann ich auch mal probieren. Eine Gefährtenschaft unter Trauernden.
DOMRADIO.DE: Haben die Gespräche mit diesen ganz unterschiedlich Trauernden auch Ihre eigene Sicht auf den Tod noch einmal verändert?
Müller: Ich glaube nicht. Ich hatte, glaube ich, schon immer eine relativ entspannte Sicht auf meinen eigenen Tod. Ich hatte auch mal eine Krebserkrankung, bin aber genesen, Gott sei Dank. Ich lebe unheimlich gerne. Aber ich gucke auch richtig neugierig darauf, wie es mal weitergeht, wie das Leben jenseits unserer sichtbaren Welt aussehen wird. Und ich fand es schön, dass auch viele von den Trauernden so eine Sicht haben oder überzeugt sind, dass die Verstorbenen irgendwo weiterleben.
DOMRADIO.DE: Würden Sie sagen, dass sich Trauer tatsächlich am Ende leichter überwinden lässt im Vertrauen darauf, dass der oder die Verstorbene eben nicht ins Leere gefallen ist, sondern in Gottes Ewigkeit geborgen?
Müller: Ja, davon bin ich absolut überzeugt. Und wenn ich etwas zitieren darf... Ulrike, deren Tochter Nina mit knapp 21 Jahren an Krebs gestorben ist, schreibt: "Ein Trost für mich ist die Gewissheit, dass es Nina jetzt gut geht, befreit von ihrem Schmerz. Und zusammen mit ihrem Cousin Jens, der 2012 im Alter von 32 Jahren gestorben ist, macht sie den Himmel unsicher. Sie ist bereits da, wo wir noch alle hingelangen müssen. Sie ist geborgen in Gottes Hand." Und das spricht ja von einem großen Trost für diese Ulrike, für die Mutter, die noch zwei andere Kinder hat. Dass sie wissen, Nina ist nicht irgendwo im Nichts verloren gegangen, sondern der geht es gut. Und dieser Ausdruck "sie macht den Himmel unsicher" mit ihrem Cousin - das fand ich so berührend.
Das Interview führte Hilde Regeniter.