Angst vor schwerer Krankheit und Hilflosigkeit, Depressionen, Einsamkeit, Trauer oder schwere Schuldgefühle: Es gibt viele Gründe, warum Menschen ihr Leben unerträglich finden. Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland mehr als 9.000 Personen das Leben - dreimal so viele, wie durch Straßenverkehrsunfälle sterben. Weitere 100.000 unternehmen einen Suizidversuch.
Selbsttötungen könnten zunehmen
Ein riesiges, aber oft verdrängtes gesellschaftliches Problem. Politiker und Ärzte befürchten, dass die Zahl der Selbsttötungen künftig noch zunehmen könnte, wenn der Bundestag in diesem Jahr ein Gesetz beschließt, das die Beihilfe zur Selbsttötung erleichtert. Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe gekippt und die Selbsttötung unter Berufung auf ein weit gefasstes Selbstbestimmungsrecht als Ausdruck des Persönlichkeitsrechts bewertet. Zugleich legten die Richter dem Gesetzgeber nahe, Missbrauch zu verhindern.
Wenn sich der Bundestag am Freitag in Erster Lesung mit dem Thema befasst, liegen drei unterschiedliche - fraktionsübergreifende - Gesetzentwürfe vor. Zusätzlich hat eine Abgeordnetengruppe um Lars Castellucci (SPD) einen Antrag eingebracht, der die Abgeordenten auffordert, die Vorbeugung vor Selbsttötungen zu fördern.
Gesetz zur Suizidprävention gefordert
Unterstützung erhielt dieses Ziel am Dienstag von 40 Organisationen und medizinischen Fachgesellschaften, die vom Bundestag ein Gesetz zur Suizidprävention sowie einen weiteren Ausbau von Hospizarbeit und Palliativversorgung fordern. Am Leben Verzweifelnde und ihnen Nahestehende brauchten Menschen, die ihnen zuhörten und nach Schritten aus der Krise suchten, heißt es in dem Aufruf. Auch die katholischen Bischöfe forderten ein Schutzkonzept für Menschen mit Suizidgedanken.
"Wir wollen den assistierten Suizid ermöglichen, aber wir wollen ihn nicht fördern. Sonst würde der äußere Druck zunehmen, sich auf diese Weise das Leben zu nehmen, und dieser würde verletzliche Gruppen besonders treffen", heißt es im Antrag der Parlamentariergruppe um Castellucci, Ansgar Heveling (CDU), Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), Stephan Pilsinger (CSU), Benjamin Strasser (FDP) und Kathrin Vogler (Linke). Wenn der Zugang zum assistierten Suizid leichter werde als zu palliativer Versorgung, zu guter Pflege oder zu Psychotherapie, entstehe eine gefährliche Schieflage. "Der Staat darf niemandem den Eindruck vermitteln, überflüssig zu sein."
Psychische Erkrankungen und akute Belastungen
Bis zu 90 Prozent der Selbstöttungen geschähen vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung oder akuten Belastung. "Es ist eindeutig, was hier zu allererst verlangt ist, nämlich Hilfe, Beratung, Unterstützung." Die Abgeordneten plädieren ebenso wie die Fachgesellschaften und Organisationen zugleich dafür, das Thema Selbsttötung aus der Tabuzone zu holen. "Wer sich mit dem Gedanken an eine Selbsttötung trägt, darf nicht auch noch stigmatisiert werden."
In ihrem Antrag äußern die Abgeordneten die Befürchtung, dass mit dem Angebot der Suizidbeihilfe auch die Nachfrage steige. So weisen die Niederlande (10,6 Suizide pro 100.000 Personen), die Schweiz (11,2) und Belgien (15,9) - Staaten, in denen Suizidassistenz seit Jahren durchgeführt wird - höhere Selbsttötungsraten auf als Deutschland (9,5).
Seelische Gesundheit fördern
Konkret fordern die Abgeordneten von der Bundesregierung, einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Suizidvorbeugung vorzulegen. Zentral müsse die Förderung der seelischen Gesundheit in Beruf, Familie und Alltag sein - etwa im betrieblichen Gesundheitsmanagement oder in Jobcentern. Außerdem solle ein deutschlandweiter Dienst aufgebaut werden, der Menschen mit Suizidgedanken und ihren Angehörigen rund um die Uhr online und per Telefon Ansprechpartner vermittelt. Der Zugang zu Selbsttötungsmöglichkeiten soll erschwert werden, etwa durch bauliche Maßnahmen an Brücken und Hochhäusern.
Darüber hinaus drängen die Abgeordneten darauf, die Forschung zur Suizidvorbeugung zu stärken und erfolgreiche Projekte auf Dauer zu fördern. Außerdem soll eine bundesweite Aufklärungs- und Informationskampagne entwickelt werden. Fort- und Weiterbildungsangebote für ärztliche, therapeutische und soziale Berufsgruppen sollen die Suizidvorbeugung stärker berücksichtigen.