Ritualisierte Sätze wie "Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander" würden nicht aufrütteln, sondern abstumpfen und den Kritikern des Sozialstaats in die Hände spielen, kritisierte er bei einer Veranstaltung der Katholischen Akademie Die Wolfsburg in Mülheim. Armut sei zwar tatsächlich ein drängendes Problem, aber "entgegen verfestigter Wahrnehmung rutschen wir nicht kontinuierlich nach unten ab", betonte Cremer.
Forderung nach differenzierterer Wahrnehmung
Stattdessen plädierte der Volkswirt und Statistiker für eine differenziertere Wahrnehmung. Statistisch gesehen gelte etwa ein Alleinstehender mit weniger als 917 Euro netto monatlich als "einkommensarm", 18- bis 24-Jährige seien die Altersgruppe mit dem höchsten Armutsrisiko. Tatsächlich sei aber bei Studierenden mit 800-Euro-Scheck von zu Hause das Armutsrisiko nur zeitlich begrenzt bis nach der Ausbildung.
Auch die weit verbreitete Annahme, das Armutsrisiko sei 2005 mit der Einführung von Hartz IV gestiegen, bezeichnete der Caritas-Chef als Fehldeutung. Der "massive Anstieg der Armutsrisikoquote" habe schon vorher stattgefunden, danach sei sie eher moderat bis konstant geblieben. Der Hauptgrund für Armut sei ein ungenügender Zugang zu produktiver Arbeit: "Geringe Qualifikation und Armutsrisiko sind Zwillingsbrüder."
Laumann: Schulsystem Faktor für Armutsbekämpfung
Der CDU-Politiker Karl-Josef Laumann nannte als zentralen Faktor für Armutsbekämpfung das Schulsystem, denn "Schule ist der wichtigste Ort für gleiche Bildungschancen". Sie müsse stärker als bisher Kinder fördern, die von zu Hause keine Unterstützung bekämen, sagte der frühere NRW-Arbeitsminister und jetzige Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit. Dafür brauche es mehr Qualität und Personal an Schulen, vor allem auch Sozialarbeiter. Zur Prävention von Altersarmut forderte Laumann eine intensivere Rentendiskussion. Sein Wunsch sei es aber, "sie vor allem aus dem Blickwinkel derjenigen zu führen, die nach 2030 in Rente gehen, da müssen wir erheblich nachlegen".
Armutsrisiko bei gegenwärtiger Rentnergeneration unterdurchschnittlich
Judith Niehues vom Institut der deutschen Wirtschaft bestätigte, dass das Armutsrisiko bei der gegenwärtigen Rentnergeneration unterdurchschnittlich sei. "Im Moment haben wir kein Altersarmutsproblem", sagte die Kölner Expertin für Mikrodatenanalyse, "aber wir werden Probleme haben, die Rente in Zukunft zu finanzieren". Der Bochumer Ruhrgebietsforscher Franz Lehner sprach von einer deutlichen "Abwärtsspirale" in manchen Ruhrregionen. So gebe es in Gelsenkirchen Stadtquartiere mit niedrigen Mieten, wo vor allem Hartz IV-Bezieher und Niedriglohnempfänger lebten. Gleichzeitig sei der Erfolg oder Misserfolg im deutschen Schulsystem eng mit Wohnort und sozialer Herkunft verbunden. "Dadurch zerstören wir Lebenschancen über Generationen hinweg", warnte er.