DOMRADIO.DE: Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind zurück in ihre Heimat gereist, vor allem im Norden des Landes. Wieso müssen wir mit so vielen neuen Flüchtlingen rechnen?
Irene Porsch (Flüchtlingsbeauftragte für den Diözesan-Caritasverband im Erzbistum Köln): Zum einen ist es einfach so, dass wir in der Ukraine jetzt wirklich viele Städte haben, in denen die Infrastruktur komplett kaputt ist. Das hat zum Winter natürlich ganz andere Auswirkungen auf das Leben dort – wenn eine Heizung nicht mehr funktioniert, wenn die Stromversorgung sehr eingeschränkt ist, die Wasserleitungen kaputt sind, sodass wir davon ausgehen, dass sich wieder mehr Menschen auf den Weg hierher machen.
Außerdem haben wir seit ein, zwei Wochen noch einmal einen massiven Angriffskrieg durch Putin, sodass die Gefährdungslage in Städten, wo es in den letzten Monaten eher ruhig war, wieder größer ist. Auch andere Geflüchtete – nicht nur aus der Ukraine – sind mehr unterwegs, weil sie Angst vor dem Winter haben.
DOMRADIO.DE: Sind Szenen wie 2015 denkbar – dass Menschen zu Tausenden an Grenzen oder an Bahnhöfen stranden?
Porsch: Ich gehe bislang nicht davon aus. Wir werden ähnliche Zahlen wie 2015 und auch wahrscheinlich noch höhere Zahlen bekommen. Zumindest sieht es gerade danach aus. Aber weiterhin – das hat sich auch schon im März gezeigt – sind die Kommunen besser aufgestellt als damals und haben in kürzester Zeit sogenannte Krisenstäbe eingerichtet, die auch arbeitsfähig sind.
Außerdem vernetzen sie sich gut mit der Zivilgesellschaft und auch mit den Wohlfahrtsverbänden. So ist die Caritas hier im Erzbistum Köln eigentlich in fast allen Krisenstäben der Kommunen vertreten. Damit kann auch eine gute Zusammenarbeit angestoßen werden. Unsere Fachdienste "Migration und Integration" haben da den Zugang zu den Kommunen.
Trotzdem gucken wir mit Sorge auf die Balkanroute, denn es machen sich auch mehr Menschen über die Balkanroute auf den Weg. Das betrifft zum einen Menschen aus Syrien, die in der Türkei gelebt haben. Die sind im Fokus populistischer Politik in der Türkei und haben Angst vor einer Massenrückführung.
Das betrifft aber auch Menschen, die in Lagern in Griechenland sind und auch in anderen Lagern in Europa, weil die Versorgungslage dort einfach schlecht ist. Auch hier ist wieder der russische Angriffskrieg daran schuld, dass die Versorgungslage insgesamt in den Ländern des globalen Südens als auch in den Lagern wirklich immer schlechter wird.
Dann haben wir noch Afghanistan – eine schwierige politische Situation, ganz große Angst vor einem Hungerwinter, weil dort die Taliban finanziell eigentlich vor dem Ruin stehen. Das merkt die Zivilbevölkerung. Wer da rauskommt, macht sich auch auf den Weg. Das alles zusammen führt zu erheblich höheren Flüchtlingszahlen. Dann haben wir natürlich schon Angst, dass auf der Balkanroute auch wieder Flüchtlinge politisch missbraucht werden – wie wir das in Belarus letztes Jahr hatten – und an den Grenzen festgehalten werden. Solche Szenarien befürchten wir.
DOMRADIO.DE: Es werden in jedem Fall mehr Unterkünfte gebraucht. Hat das Erzbistum Kapazitäten?
Porsch: Die Kirchengemeinden geben ihre Kapazitäten direkt an die Kommunen weiter. Die Kapazitäten, die da sind, sind schon vergeben. Und da wohnen auch Menschen drin. Wir geben das auch immer wieder an Willkommensinitiativen aus der "Aktion Neue Nachbarn" weiter und die vermitteln direkt. Die Kapazitäten sind auch deshalb eingeschränkt, weil tatsächlich immer noch in vielen kirchlichen Räumen Flutopfer wohnen, die jetzt den zweiten Winter ohne Heizungsversorgung vor sich haben, und weil auch schon vorher Wohnraum an Geflüchtete vergeben wurde. Die können auch jetzt nicht einfach rausgeworfen werden. Denn die Wohnungsmärkte in unseren Kommunen sind so schlecht, dass Flüchtlinge teilweise über Jahre im kirchlichen Wohnraum wohnen und ansonsten keine Alternative haben würden.
DOMRADIO.DE: Unterkünfte alleine reichen nicht. Gebraucht werden auch Deutschkurse, Kitaplätze, Plätze in Schulen. Wie sieht die Situation da aus?
Porsch: Die Situation sieht da auch nicht gut aus. Viele zusätzliche Deutschkurse haben wir jetzt über die "Aktion Neue Nachbarn" anbieten können und können das auch weiterhin tun. Das macht das Katholische Bildungswerk. Das bekommt einen extra Zuschuss und hat so seine Kapazitäten enorm ausgebaut. Was die Schul- und Kitaplätze betrifft, da kommen die Kinder natürlich in ein System, das sowieso schon einen totalen Mangel hat.
Vor einem Monat fehlten schon mehrere 1.000 Schulplätze in NRW und die Situation ist nicht besser geworden. Das ist eine ganz große Herausforderung, wo man einfach jetzt zehn Jahre lang ein System kaputtgespart hat. Das merken jetzt wieder die, die auf die unsichersten Strukturen treffen – nämlich Menschen, die alles aufgeben mussten und hier versuchen, eine neue Heimat zu finden. Aber auch andere Kinder warten händeringend auf Kitaplätze. Es wird alles möglich gemacht, auch gerade in den kirchlichen Strukturen. Aber es wird nicht reichen.
DOMRADIO.DE: Wie koordiniert läuft aktuell die Zusammenarbeit mit der Stadt Köln?
Porsch: Das macht ja vor allem bei uns der Caritasverband für die Stadt Köln. Aber das läuft relativ gut. Die Absprachen sind gut und es ist auch ein wertschätzendes Miteinander, kann man sagen.
DOMRADIO.DE: Das Erzbistum ist also optimal vorbereitet auf die neu ankommenden Menschen?
Porsch: Vorbereitet sind wir. Trotzdem wird es eine große Herausforderung sein. Wir haben noch einen Punkt, das ist die private Unterbringung. Es sind ja so viele Geflüchtete aus der Ukraine privat untergebracht, wie wir das vorher noch nie hatten. Da werden die Situationen auch langsam immer schwieriger und herausfordernder. Allein schon mit den steigenden Energiekosten und mit der Länge des Zusammenlebens. Es bestehen ja Wohngemeinschaften seit Februar, März. Und je länger man dieses Not-Konstrukt fährt, desto mehr Konflikte entstehen auch.
Da haben wir erfreulicherweise seit dem 1. Oktober vier Beratungsstellen im Erzbistum, an die sich die Menschen wenden können, wenn es Konflikte gibt – Gastgeberinnen und Gastgeber, aber auch ukrainische Geflüchtete. Zwei Stellen haben schon angefangen, in Wuppertal und in Euskirchen. Zwei weitere Stellen werden noch in Bonn und in Köln eingerichtet. Das ist sicherlich eine ganz hilfreiche Unterstützung.
Das Interview führte Dagmar Peters.