DOMRADIO.DE: Welche Länder geraten gerade in Vergessenheit? Wo ist die Lage alarmierend?
Dr. Oliver Müller (Leiter von Caritas International): Ich denke da vor allem an afrikanische Länder wie Burkina Faso, Mali, die Zentralafrikanische Republik. Auch in Afghanistan ist die Situation extrem zugespitzt. Es gibt eine ganze Menge von Ländern, die aus dem Blick geraten sind und für die - das haben wir festgestellt - alles in allem viel zu wenige Mittel zur Verfügung stehen.
DOMRADIO.DE: Woran liegt es, dass diese Länder und die Probleme dort gerade in den Hintergrund gedrängt werden?
Müller: Es liegt der Verdacht nahe, dass momentan auf staatlicher Ebene weltweit Mittel umgeschichtet werden zugunsten der Katastrophenhilfe in der Ukraine. Das ist in Großbritannien ganz klar der Fall. Dort wurden 4 Milliarden Pfund umgeschichtet. Es ist zweifellos gut, den Menschen in der Ukraine zu helfen, aber es ist natürlich besonders bitter für die knapp sechs Millionen Menschen in Somalia, die jetzt am Rande einer Hungerkatastrophe stehen, wenn die nicht mehr unterstützt werden. Wir haben immer wieder ermahnt: 'Diese Mittel dürfen nicht miteinander verrechnet werden!' Aber es zeigt sich, dass insgesamt zu wenige Mittel von staatlicher Seite zur Verfügung gestellt werden.
Ich muss allerdings dazu sagen, dass wir bei Caritas International durchaus beobachten, dass Menschen, auch im Jahr 2022, für den globalen Süden, also für Länder außerhalb der Ukraine, gespendet haben. Und das ist sehr, sehr positiv.
DOMRADIO.DE: Sie sagten in der Vergangenheit, dass wir bei der Bekämpfung des Hungers schon einmal weiter waren. Woher kommt der Rückschritt?
Müller: Das Problem lässt sich mit drei Begriffen beschreiben: Corona hat viele Menschen, auch Gesundheitssysteme, zurückgeworfen. Zweitens: Die Krisen und Konflikte sind nach wie vor ein großes Thema. Mehr als 100 Millionen Menschen weltweit mussten ihre Heimat verlassen und sind auf der Flucht. Das sind so viele wie noch wie noch nie. Und drittens: Katastrophen, Naturkatastrophen. Auch die nehmen zu und bringen die Menschen an den Rand ihrer Existenz.
DOMRADIO.DE: Wie hilft Caritas International aktuell in den Ländern, die Sie zum Beispiel auch eben genannt haben?
Müller: Es geht darum bei den Menschen direkt anzusetzen und sie zu ermächtigen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Niemand ist ganz hilflos und niemand sollte zu 100 Prozent auf fremde Hilfe angewiesen sein. So ist es wichtig, die Selbsthilfekräfte zu stärken; zum Beispiel Kleinbauern mit Saatgut zu versorgen. Dann können sie ihr Leben auch wieder in die eigene Hand nehmen. Auch Katastrophen-Opfer von Taifunen und Hurricans wollen und können beim Wiederaufbau ihrer Häuser mitwirken. Auf dieser Basis ist vieles möglich. Wir versuchen auch bei den Dorfgemeinschaften in den ländlichen Gebieten anzusetzen. Das machen wir in Afghanistan, wo wir versuchen, mit den Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, damit sie sich besser vor dem Klimawandel und Katastrophen schützen können. Es geht nicht nur um die sofortige Hilfe, sondern auch darum, Menschen in die Lage zu versetzen, in Zukunft nicht wieder Opfer einer Katastrophe zu werden.
DOMRADIO.DE: Was fordern Sie von der Politik?
Müller: Die Situation der armen Menschen mehr in den Blick zu nehmen. Ich denke an die armen Menschen im sogenannten globalen Süden, die in Entwicklungsländern leben. Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2022 insgesamt 51 Milliarden Dollar für Hilfsgelder benötigt. Und lediglich 24 Milliarden, weniger als die Hälfte, sind zusammengekommen. Da bleibt eine große Lücke. Und wenn man das jetzt mit anderen Mitteln vergleicht: Für die Ukraine wurde in kürzester Zeit auf einer auf einer Sonderkonferenz eine Milliarde Euro zusammengetrommelt. Dann zeigt es schon, dass man insgesamt mehr machen kann. Und so gesehen sollte man andere Länder wie beispielsweise Mali, Somalia oder Venezuela nicht vergessen.
Das Interview führte Michelle Olion.