DOMRADIO.DE: In Aschaffenburg war der mutmaßliche Täter ein abgelehnter Asylbewerber aus Afghanistan, in Solingen vergangenen Sommer ein syrischer Islamist. Und als kurz vor Weihnachten auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg ein Auto in diese Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt raste, saß ein Mann aus Saudi-Arabien am Steuer. Was entgegnen Sie Menschen, die sagen, von einigen Geflüchteten geht eine Gefahr aus?
Irene Porsch (Flüchtlingsbeauftrage der Caritas im Erzbistum Köln): Erstmal ist es mir wichtig zu sagen, was in Aschaffenburg passiert ist, ist furchtbar. Das hat uns alle zutiefst erschüttert. Wir verurteilen diese abscheuliche Tat und möchten allen Opfern und Angehörigen unser tiefstes Mitgefühl aussprechen. Auch was in Solingen passiert ist, ist furchtbar. Und auch was in Magdeburg passiert ist, ist furchtbar.
Aber es sind alles drei unterschiedliche Geschichten, unterschiedliche Menschen, die diese furchtbaren Taten begangen haben. Wir können und dürfen nicht eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht stellen und dürfen uns auch nicht diesen Ängsten aussetzen.
Der Straftäter von Aschaffenburg war psychisch krank und er hat eine Fluchtgeschichte. Vier Prozent von Menschen mit psychischen Erkrankungen neigen zu Gewalttaten. Zwei Prozent ohne Erkrankung tun dies. Das ist zwar ein überschaubares Risiko, aber es geht eine Gefahr aus von Menschen, die bereit sind, Gewalttaten zu begehen.
Es geht auch eine Gefahr von Missständen aus, die in unserer Gesellschaft herrschen und Spaltung vorantreiben. Dazu gehört zum Beispiel eine unzureichende psychosoziale Versorgung der Menschen, spätestens seit Corona.
Aber eine pauschale Verdächtigung von Migranten und Migrantinnen, vor allem von Menschen mit muslimischem Hintergrund, missachtet den Menschen, der da steht. Es führt in die Irre und spaltet unsere Gesellschaft. Das dürfen wir jetzt nicht aufgeben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt, unsere plurale Gesellschaft. Deswegen können wir nicht sagen, von Geflüchteten geht eine Gefahr aus. Es geht von einzelnen Menschen mit einer Gewaltbereitschaft eine Gefahr aus.
DOMRADIO.DE: CDU-Kanzlerkandidat Merz versucht vielleicht diese Verunsicherung in der Bevölkerung für sich zu nutzen. Ginge es nach ihm, sollen künftig an den deutschen Grenzen pauschal alle Personen ohne gültige Einreisedokumente, inklusive Asylbewerber abgewiesen werden. Ist das überhaupt so einfach möglich?
Porsch: Das europäische Recht sieht diese Möglichkeit vor in Notstandsituation, aber - so wie Friedrich Merz es fordert- ist es ein offener Angriff auf das Grundrecht auf Asyl in Deutschland. Es ist letztendlich auch die Absage an die Idee eines gemeinsamen freiheitlichen europäischen Raumes.
Ich glaube auch nicht, dass es die Probleme beseitigen würde. Grenzkontrollen können natürlich kurzfristig dafür sorgen, dass weniger Menschen über diesen bestimmten Grenzabschnitt kommen. Aber Migrationsrouten passen sich flexibel diesen Grenzkontrollen an und dauerhafte Grenzkontrollen haben ganz andere Auswirkungen auf Wirtschaft und Tourismus.
Das müssen wir auch in Kauf nehmen, neben dem, dass wir unsere gemeinsame europäische Idee verabschieden. Und geht das so einfach? Wir gehen das Risiko ein, dass der Europäische Gerichtshof diese Grenzkontrollen am Ende für rechtswidrig erklärt.
DOMRADIO.DE: Die Vorfälle wie in Aschaffenburg oder in Solingen erschüttern das Vertrauen von unserer Gesellschaft in den Staat. Der Staat kann uns nicht schützen. An dieser Stelle entsteht dieses Misstrauen, diese Unsicherheit. Lassen sich solche Taten aus Ihrer Sicht überhaupt verhindern?
Porsch: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich kann sagen, wie sie sich nicht verhindern lassen. Sie können sich nicht durch ein Bekämpfen unserer demokratischen Werte und durch einen immer höheren und immer komplexeren Regelungskatalog verhindern.
Das Asylrecht in Deutschland ist so komplex, dass tatsächlich auch da der Vollzug der Behörden immer schwieriger wird. Sie lassen sich nur verhindern durch eine freiheitliche demokratische Grundordnung, durch eine plurale Gesellschaft, durch ein Miteinander, in der der Mensch auch Mensch sein darf und sich entfalten darf, indem ein Staat für Menschen subsidiär Ermöglichungsflächen bietet. Das steht gerade auf dem Spiel.
DOMRADIO.DE: CSU-Chef Markus Söder hat vor wenigen Tagen gesagt, Migration überfordert unser Land. Abgesehen davon, dass er im Wahlkampfmodus ist, das hören wir seit Jahren von Kommunen, von Bürgermeistern, dass sie überfordert seien, alleingelassen würden und auf ihren Kosten sitzen blieben. Muss man an diesem Punkt vielleicht anerkennen, dass es eine Überforderung gibt?
Porsch: 2015 und 2016 war eine massive Überforderung da. Nun zehn Jahre später können wir sagen, es war gut, was passiert ist, auch wenn das politisch anders gewertet wird. Aber wir haben ganz viele Menschen hier aufgenommen. Auch mit einer temporären Überforderung hat es dazu geführt, dass viele Menschen hier als neue Nachbarinnen und Nachbarn angekommen sind und Integration möglich war. Es hat unsere Gesellschaft bereichert.
Im Umkehrschluss möchte ich fragen, werden wir die sozialen Herausforderungen und Probleme gelöst bekommen, wenn wir Menschen rausschmeißen, die um Asyl bitten oder eine neue Heimat finden möchten? Haben wir dann genug bezahlbaren Wohnraum? Haben wir eine gerechte Besteuerung? Haben wir keine maroden Schulgebäude mehr? Haben wir genug Pflegekräfte, genug bezahlbare Pflegeplätze, ein intaktes Schienennetz ohne Sanierungsstau, arbeitsfähige Behörden und kein Fachkräftemangel mehr? Ich glaube nicht.
Die Herausforderungen und Zumutungen der Zuwanderung beunruhigen viele Menschen. Und ja, es kommt immer wieder zu Notstand einzelner Kommunen. Aber es sind ganz wenige Kommunen, die im Moment von Notstand und Überforderung sprechen. Die meisten schaffen das gut und könnten es auch besser schaffen, wenn wir zum Beispiel weniger komplexe Regelungskataloge hätten. Hier werden Sorgen von Überforderung und von sozialer Ungerechtigkeit genährt, auf Kosten einer sehr kleinen Bevölkerungsgruppe. Das geht nicht.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist das nun mal Wahlkampfthema, weil es die Menschen bewegt. Und wenn die Parteien der Mitte an dieser Stelle nicht agieren, übernehmen andere Parteien, die AfD beispielsweise. Nach dieser Logik muss die CDU jetzt eigentlich im Wahlkampf dieses Migrationsthema bedienen, oder?
Porsch: Ja, sie muss es bedienen, aber sie muss es bedienen, indem sie deutlich machen, dass alle Parteien der Mitte gemeinsam den verschiedenen sozialen und politischen Herausforderungen begegnen möchten, und die Parteien nicht noch aufeinander gegenseitig einstechen und tatsächlich die Duldung und Unterstützung einer weitgehend rechtsradikalen Partei in Kauf nehmen.
Rund um das Thema Migration werden Diskussionen und Debatten geführt, die Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete pauschal zu Sündenböcken für gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen machen. Das nährt ein Friedrich Merz, wenn er so vorgeht. Ja, es gibt Zugewanderte, die Unruhe und Gewalt stiften. Es gibt Terroristen.
Natürlich müssen wir uns vor diesen mit allen Mitteln schützen, mit dem Strafrecht und durch Ausweisung. Aber es gibt ganz viele Menschen, die hier in unserer Zivilgesellschaft als neue Nachbarinnen und Nachbarn aktiv unser Zusammenleben gut mitgestalten. Genau das muss Politik zum Thema machen in diesem Wahlkampf: mehr Miteinander, weniger Spaltung, mehr Menschen.
DOMRADIO.DE: Welche Konsequenzen müssen jetzt aus Aschaffenburg und den anderen Gewalttaten aus Ihrer Sicht gezogen werden?
Porsch: Das klingt groß, klingt pauschal. Aber wir müssen einfach weiterhin den gesellschaftlichen Zusammenhalt, unsere Demokratie hier in Deutschland stärken. Es waren am Samstag hier in Köln sehr, sehr viele Menschen auf der Straße und die haben deutlich gesagt, unser Herz schlägt für Zusammenarbeit, für Vielfalt.
Wir überlassen nicht der AfD, Abgrenzung und sozialer Spaltung das Feld. Genau das braucht es jetzt als Konsequenz, dass wir dieses stärken, dass wir uns gegenseitig zeigen, wir sind nicht allein und dass wir die Menschen auch in ihren sozialen Nöten und Ängsten ernst nehmen; ob mit oder ohne Migrationshintergrund.
Das Interview führte Tobias Fricke.