DOMRADIO.DE: Die Situation im Nahen Osten ist sehr angespannt. International versuchen viele Seiten eine Eskalation noch zu vermeiden. Besonders im Blick ist dabei der Libanon. Viele Ausländer wollen fluchtartig das Land verlassen. Wie empfinden Sie die Situation in Ihrem Land?
Pater Michel Abboud OCD (Direktor Caritas Libanon): Die Situation im Libanon ist in der Tat sehr beunruhigend. Die Menschen haben große Angst vor einem Krieg. Die Bedrohung für uns kommt von beiden Seiten, von der Hisbollah und der israelischen Armee. Viele Diaspora-Libanesen haben das Land schon verlassen. Viele sind einfach nicht mehr aus dem Sommerurlaub zurückgekommen. Und Viele Flüge in den Libanon finden auch gar nicht mehr statt. Die Lage ist sehr düster, da wir nicht vorhersagen können, was als Nächstes geschieht.
Trotz alledem setzten wir unsere Arbeit als Caritas im Land natürlich auf allen Ebenen fort. Aber die Menschen im Land haben einfach Angst, weil sie nicht wissen, was die Zukunft bringt. Gerade aus den Dörfern im Süden sind in den letzten Monaten viele zu uns in die Hauptstadt geflohen. Sie sind bei ihren Cousinen oder Eltern untergekommen, deren Leben war schon vorher nicht einfach, da wir uns in einer tiefen Wirtschaftskrise befinden. Das hat das alles jetzt nur noch schwerer gemacht. Arbeiten im Süden werden einfach nicht mehr verrichtet, viele haben dadurch auch ihre Jobs verloren. Die kommen dann zu uns und bitten uns als Caritas um Hilfe. Schüler haben uns nach iPads und Laptops gefragt, um am Schulunterricht zumindest digital teilzunehmen. Diese Sachen sind in den letzten Tagen und Wochen aber total in den Hintergrund gerückt. Jetzt geht es um Essen oder Medikamente – um das nackte Überleben.
DOMRADIO.DE: Die Kämpfe im Süden gibt es schon seit Monaten, die große Angst ist jetzt, dass sich der Krieg auf das ganze Land ausweitet. Was würde das für Sie bedeuten?
Abboud: Sie haben Recht, diese Kriegsangst hat jetzt das ganze Land erfasst. Sonst war das nur in den Regionen im Süden. Die Leute waren dort in zwei Gruppen geteilt: Die geflohen sind und die geblieben sind. Viele hatten einfach nicht die Mittel und Möglichkeiten ihre Dörfer zu verlassen. Deren Überlebensangst hat jetzt das ganze Land erfasst.
Wir erinnern uns noch gut an den Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006. Damals wurde das ganze Land von Israel bombardiert. Da gab es keinen sicheren Ort mehr im Land. Jetzt haben viele die Angst, dass dieser Zustand zurückkommt. Sie wissen einfach nicht, wohin sie noch fliehen sollen.
DOMRADIO.DE: Gibt es denn Bunker oder Schutzräume?
Abboud: Um ehrlich zu sein: Leider nein. Es gibt ein paar vereinzelte Schutzräume, die sich die Leute im Keller eingerichtet hatten. Aber das wars dann auch. Wir haben Schutzräume, die zum Bürgerkrieg gebaut wurden, aber die bieten natürlich keine Hilfe bei Raketen- oder Bombenangriffen.
DOMRADIO.DE: Internationale Flüge werden gestrichen, die Bundeswehr bereitet sich auf die Evakuierung der verbliebenen deutschen Staatsbürger vor. Am Flughafen von Beirut soll es nach Medienberichten am Montag zu chaotischen Szenen gekommen sein. Können Sie denn verstehen, dass die Menschen nun fluchtartig Ihr Land verlassen wollen. Daraus spricht ja eine große Verzweiflung.
Abboud: Ich verstehe das total. Viele Libanesen sind finanziell von Verwandten im Ausland abhängig. Eltern bekommen Geld von den Kindern geschickt – oder die Kinder kommen zu Besuch und geben ihr Geld bei uns im Land aus. Die sind jetzt alle weg. Viele Libanesen haben Häuser in Europa, Amerika oder Australien. Die sind auch weg.
Viele Botschaften rufen ihre Bürger auf, den Libanon zu verlassen. Das war für uns ein großes Alarmsignal. Da haben wir verstanden, dass die Lage diesmal wirklich ernst ist. Nach dem 7. Oktober haben wir die Kämpfe zwischen Hisbollah und Israel als einen Armeekonflikt betrachtet, jetzt sieht es so aus als ob tatsächlich ein echter Krieg draus wird, der unser ganzes Land erfasst. Eine ernste und kritische Situation.
DOMRADIO.DE: Denken Sie als Caritas darüber nach mit Ihren Mitarbeitern das Land zu verlassen, oder sagen Sie: Wir bleiben und helfen den Menschen?
Abboud: Wir bleiben mit unseren Angestellten und Freiwilligen hier. Das war von Anfang an klar. Wir versuchen uns so gut es geht auf einen Krieg vorzubereiten. Wir haben nur nicht die Gelder, um im Kriegsfall wirklich eine Hilfe zu sein. Wir saßen gerade mit unseren Abteilungsleitern zusammen und haben geplant, wie wir mit der Lage umgehen. Wir sind bereit für den Krieg, auf allen Ebenen unserer Organisation. Es fehlt nur einfach das Geld. Wir nehmen mit einer Hand das Geld ein und geben es direkt mit der nächsten weiter an die Bedürftigen. Wir bekommen nicht viele Spenden im Moment und überlegen, wie wir damit umgehen und versuchen auch international Aufmerksamkeit für unsere Lage zu bekommen. Ob der Krieg kommt oder nicht, die Lage ist sehr ernst im ganzen Land. Wir versuchen unseren Leuten zu helfen. Gott sei Dank gibt es auch noch Menschen im Land, die uns finanziell unterstützen können, das macht die Hilfe etwas einfacher. Der größte Teil unseres Volkes leidet im Moment im Stillen.
DOMRADIO.DE: Wie fühlen Sie sich persönlich im Moment? Haben Sie Angst?
Abboud: Unsere Generation im Libanon hat schon viel durchgemacht. Wir sind es gewohnt, im Kriegszustand zu leben. Als Christen haben wir aber auch die Erfahrung gemacht, dass Gott immer an unserer Seite steht. Selbst wenn wir unsere Häuser und Einkommen verlieren, wir verlieren nicht unseren Glauben. Wir merken, dass in Krisenzeiten sich auch bei uns mehr und mehr dem Glauben zuwenden, weil wir die Präsenz Gottes spüren. Wir sind zu einem Land der Märtyrer geworden. Das Blut der Märtyrer und die Kraft des Gebetes helfen uns durchzuhalten. Wir glauben an die Liebe Gottes.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.