Caritas sieht steigende Belastung von Ukraine-Geflüchteten

"Probleme und Herausforderungen wachsen"

Die Ukraine wird seit einem halben Jahr von Russland angegriffen. In Deutschland ist die Hilfsbereitschaft für Geflüchtete immer noch groß, sagt die Caritas. Die Dauer des Konflikts führt aber zu Problemen bei den Ehrenamtlichen.

Mit Ende der Sommerferien gehen auch viele ukrainische Kinder in die Schule. / © Annette Riedl (dpa)
Mit Ende der Sommerferien gehen auch viele ukrainische Kinder in die Schule. / © Annette Riedl ( dpa )

DOMRADIO.DE: In den ersten Kriegstagen und Wochen ging es vor allem um eine schnelle Versorgung. Wenn Sie als Caritas jetzt auf die Situation schauen: Was benötigen die Geflüchteten im Moment am meisten, sechs Monate nach Kriegsbeginn?

Irene Porsch, Flüchtlingsbeauftragte der Caritas / © Caritas (Diözesan-Caritasverband Erzbistum Köln)

Irene Porsch (Flüchtlingsbeauftragte für den Diözesan-Caritasverband im Erzbistum Köln): Sie benötigen weiterhin Stabilität, Möglichkeiten zur Integration. Und man kann es ganz einfach sagen: Am meisten benötigen sie Wohnraum, Kitaplätze und Schulplätze für ihre Kinder.

DOMRADIO.DE: In Nordrhein Westfalen hat die Schule ja vor zwei Wochen begonnen. Die Kitas sind schon länger offen. Welchen Eindruck haben Sie von der Integration der Kinder, denn es sind ja vor allem viele Familien und auch Mütter mit kleinen Kindern aus der Ukraine gekommen...

Porsch: Also, das ist sehr unterschiedlich. Man muss auch sagen, die Geflüchteten aus der Ukraine sind jetzt im Moment an unterschiedlichen Punkten hier im Erzbistum. Wir haben eine deutliche Pendelbewegung festgestellt, es sind in den Sommerferien zum Beispiel viele Mütter oder manchmal auch die ganzen Familien noch mal für eine Zeit lang in die Ukraine zurückgereist, weil dort eben ihre Angehörigen leben.

Irene Porsch, Flüchtlingsbeauftragte

"Wir haben eine deutliche Pendelbewegung bei den Geflüchteten festgestellt"

Andere sind hier und haben sich intensiv um die Integration gekümmert und stellen sich darauf ein, dass sie jetzt hier mit längerer Perspektive auch in Deutschland leben und haben sich auch sehr bemüht, dass ihre Kinder die Möglichkeit haben, hier ins deutsche Schulsystem einzusteigen. Wiederum andere sind noch sozusagen "dazwischen", machen noch Homeschooling in der Ukraine.

Oder es gibt auch noch leitende Angestellte, die im Homeoffice von hier aus digital in der Ukraine arbeiten. Wir haben also ein ganz breites Potpourri. Aber was wir feststellen: Die Zahlen an Kindern und Jugendlichen, die in die Schule gehen, sind deutlich gestiegen. Und da herrscht eine große Motivation, ein großer Integrationswille.

Aber man muss auch sagen, dass die Schulen nach zwei Jahren Corona, gerade auch, was den offenen Ganztag im Grundschulbereich betrifft, der sowieso schon sehr am Limit war, an Grenzen kommen. Und jetzt kommen natürlich viele zusätzliche Schülerinnen und Schüler an, das macht sich bemerkbar. Schlimmer noch ist es in den Kitas. Viele Eltern haben schon vorher keine Kitaplätze gekriegt. Und so gibt es natürlich auch nicht viele Kitaplätze für Kinder aus der Ukraine. Es wird dann nach anderen Möglichkeiten gesucht, aber die sind natürlich nicht hinreichend.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie gerade schon angesprochen, dass viele Leute ja auch wirklich planen, hier zu bleiben, egal ob freiwillig oder weil es eben nicht anders geht. Wie unterstützt die Caritas diese Menschen? Das ist ja auch psychisch eine hohe Belastung zu wissen, dass man erst mal nicht mehr in die Heimat zurückkehren kann...

Porsch: Wir unterstützen auf zwei Arten. Einmal über die Aktion "Neue Nachbarn". Das ist eine gemeinsame Aktion mit dem Erzbistum Köln zur Stärkung der Willkommens- und Integrations-Kultur. Hier im Erzbistum unterstützen über 11.000 Ehrenamtliche und Engagierte bistumsweit beim ersten Ankommen in Sprachkursen für Geflüchtete, in Willkommenscafes, aber auch in der Alltagsunterstützung als Patinnen und Paten.

Und dann unterstützen wir über die Fachdienste Integration und Migration der Caritas mit professionellen Beratungsangeboten. Das war viel Unterstützung bei den sogenannten Rechtskreiswechseln. Ab Juni sind ja Geflüchtete aus der Ukraine ins Sozialgesetzbuch II gewechselt und haben andere Sozialleistungen, die sie jetzt in Anspruch nehmen können. Das war ein aufwändiger Prozess mit vielen Formularen, die auszufüllen sind.

Irene Porsch, Flüchtlingsbeauftragte

"Da ist dann tatsächlich zum Beispiel ein afghanischer Arzt, der seit 30 Jahren in der Ukraine gearbeitet hat und jetzt zurück nach Afghanistan gehen soll."

Wir unterstützen auch zum Beispiel die zahlreichen Drittstaatsangehörigen. Wir haben ja auch viele Menschen, die schon seit Jahrzehnten in der Ukraine leben, aber keinen ukrainischen Pass haben und jetzt hier ankommen und wo hier eigentlich geprüft wird, ob ihnen eine Rückkehr in ihr Heimatland zumutbar ist. Da ist dann tatsächlich zum Beispiel ein afghanischer Arzt, der seit 30 Jahren in der Ukraine gearbeitet hat und jetzt zurück nach Afghanistan gehen soll. Solche Fälle werden dann bei den vielen rechtlichen Herausforderungen begleitet.

DOMRADIO.DE: Am Anfang des Krieges haben ja viele Ehrenamtliche ihre Wohnungen geöffnet, um den Familien für eine Übergangszeit ein Zuhause zu bieten. Jetzt dauert der Krieg länger als viele gedacht haben. Wie groß ist die Bereitschaft, den Menschen auch länger diesen privaten Wohnraum anzubieten?

Porsch: Die Bereitschaft ist immer noch unglaublich groß, aber die Probleme und die Herausforderungen wachsen. Da ist kurzfristig ist sehr viel Wohnraum zur Verfügung gestellt worden. Wir haben Kommunen, in denen wirklich 2/3 der Geflüchteten aus der Ukraine im privaten Wohnraum untergebracht waren. Und jetzt bitten aber immer mehr ukrainische Geflüchtete um Unterstützung, die bisher bei Freunden, Bekannten und Engagierten privat untergebracht waren. Und es bitten auch immer mehr Gastgeberinnen und Gastgeber um Unterstützung.

Irene Porsch, Flüchtlingsbeauftragte

"Es ist natürlich auch festzustellen, dass viele Wohnsituationen nicht für einen langfristigen Aufenthalt gemacht waren."

Denn es ist ein bisschen so wie Besuch da zu haben: Für einige Wochen kann man zusammenrücken, kann man sich auch noch mal miteinander einigen.

Aber je mehr Zeit vergeht, desto mehr prallen da auch unterschiedliche Interessen aufeinander. Und es ist natürlich auch festzustellen, dass viele Wohnsituationen nicht für einen langfristigen Aufenthalt gemacht waren. Trotzdem stehen viele Gastgeberin und Gastgeber vor der Herausforderung, dass wenn sie das Wohnverhältnis oder das Gastverhältnis beenden, die ukrainischen Geflüchtete in kommunale Unterkünfte müssen und das ist ein großer Druck, der da auch auf den Menschen lastet, die helfen wollen.

Das Interview führte Michelle Olion.

Ukraine feiert im Schatten des Krieges Tag der Unabhängigkeit

Im Schatten des seit einem halben Jahr andauernden russischen Angriffskriegs begeht die Ukraine am 24. August ihren Nationalfeiertag. Der Unabhängigkeitstag sei ein wichtiges Datum für die Ukrainer und Ukrainerinnen - "und damit leider auch für unseren Feind", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. In Kiew herrschte Nervosität wegen befürchteter russischer Raketenangriffe auf große Städte. Selenskyj rief die Bevölkerung auf, sich an die Ausgangssperren zu halten und bei Luftalarm in Sicherheit zu bringen. "Denkt daran, wir sollen alle gemeinsam den Sieg erleben", sagte er.

Frauen tragen ukrainische Fahnen während der wöchentlichen Generalaudienz des Papstes / © Gregorio Borgia (dpa)
Frauen tragen ukrainische Fahnen während der wöchentlichen Generalaudienz des Papstes / © Gregorio Borgia ( dpa )
Quelle:
DR