DOMRADIO.DE: Wenn man das Wort "Friedensschluss" hört, denkt man, dass es ab dem Zeitpunkt aufwärts gehen müsste. Warum ist das in Tigray im Norden Äthiopiens nicht der Fall?
Lukas Müller (Referent bei Caritas International): Es ist ja oft so, dass bewaffnete Konflikte zu vielen Kollateralschäden führen und nicht nur zur Abnutzung der Armee. In Tigray gab es zwei Jahre lang starke Gefechte und darüber hinaus auch eine wirtschaftliche Blockade der Region. Der Region ging es davor auch nicht sehr gut. Die Leute in Tigray waren zu Beginn des bewaffneten Konflikts in keinem sehr guten Zustand.
Tatsächlich ist es jetzt so, dass zwei Jahre lang und darüber hinaus keine Landwirtschaft betrieben werden konnte und die Menschen unter extremer Nahrungsmittelknappheit leiden, weil jahrelang auch keine Nahrungsmittel von außen eingeführt werden konnten. Das heißt, die Leute konnten nichts anbauen und auch nichts auf den Märkten erwerben.
Das ist jetzt ein langer Weg zurück. In der Regel sagt man, bei bewaffneten Konflikten dauert es noch mal doppelt so lange, wie der Konflikt an sich gedauert gedauert hat, bis man mit dem Wiederaufbau danach fertig ist. Das kann bis zu zehn Jahren dauern, bis man wieder auf dem Niveau sein wird, das man vor der Krise hatte.
DOMRADIO.DE: Warum war die Region so umkämpft?
Müller: Es gab politische Spannungen in Äthiopien und ein Konflikt zwischen der regionalen politischen Partei und der Zentralregierung. Das ist eine sehr komplexe Gemengelage. Die äthiopische Geschichte ist sehr lang und und sehr kompliziert. Das haben damals die internationale Gemeinschaft und auch wir sehr bedauert, dass sich das im bewaffneten Konflikt entladen hat. Wir hatten gehofft, dass es sich mit politischen Mitteln lösen lässt.
Das war offensichtlich nicht der Fall. Ich denke, es herrscht immer noch Konsens darüber, dass es ein eher sinnloser Konflikt war. Auch in der Region herrscht große Frustration. Der Konflikt hat die Region um Jahre zurückgeworfen, wenn nicht sogar um Jahrzehnte. Der Preis, den die Bevölkerung für diese politischen Auseinandersetzungen gezahlt hat, ist absolut unverhältnismäßig.
DOMRADIO.DE: Was benötigen die Menschen im Moment am meisten?
Müller: Fünf Millionen Menschen brauchen in Tigray aktuell Nahrungsmittelhilfe. Wahrscheinlich sind es sogar mehr. Diese Schätzungen sind nie ganz genau. Das sieht man auch. Als ich vor kurzem in Mek'ele war und auch im ländlichen Tigray, haben Menschen auf der Straße gebettelt Man sah den Kindern an, dass sie strukturell unterernährt sind, also schon seit längerer Zeit nicht mehr genug zu sich genommen haben. Die Situation hat sich jetzt deutlich verkompliziert.
Eigentlich war nach Abschluss des Friedensvertrags humanitäre Hilfe möglich. Die wurde von diversen Akteuren auch geleistet. Unsere Partner haben auch durch die Krise hindurch auf einer gewissen Ebene humanitäre Hilfe geleistet.
Aber danach sind sehr große Programme aufgefahren worden, auch von der amerikanischen Regierung und von den Vereinten Nationen. Im Februar und März wurde ein großer Teil dieser fünf Millionen bedürftigen Menschen versorgt. Im April kam es aber zu einem Stopp der Nahrungsmittelhilfe, und zwar aus Gründen von Missbrauchsverdacht. Genauer gesagt geht es um Fehlnutzung der Hilfsgüter. Man vermutet, dass da was abgezweigt und auf Märkten verkauft wurde.
Die USA und die Vereinten Nationen haben als Antwort darauf dann die Nahrungsmittelhilfe Ende März, Anfang April gestoppt und bis heute nicht wieder aufgenommen.
Im Gegenteil, es hat sich jetzt noch deutlich verschärft. Zu Beginn war es nur in Tigray der Fall, dass es gestoppt wurde und seit letzter Woche ist ganz Äthiopien betroffen.
Wir sind mitten in einer großen Krise. Die Menschen brauchen dringend Nahrungsmittel. Die Erntesaison ist noch drei oder vier Monate entfernt und die Situation verschärft sich momentan Tag für Tag. Wir haben jetzt seit zwei, drei Wochen die Situation, dass in verschiedenen Lagern wieder Menschen an Hunger gestorben sind.
Wir machen uns sehr große Sorgen, dass sich das in den kommenden Wochen verstärken wird, wenn es so weitergeht.
DOMRADIO.DE: Dennoch ist Caritas international vor Ort beziehungsweise hilft durch die Partner. Wie sieht Ihre Hilfe konkret aus?
Müller: Wir leisten auch Nahrungsmittelhilfe über lokale Organisationen und unterstützen die Menschen mit Haushaltsgegenständen. In vielen Fällen wurden die Menschen vertrieben, konnten überhaupt nichts mitnehmen. Es gab im Rahmen der bewaffneten Konflikte auch gezielte Plünderungen von Privathaushalten.
Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, als ich da war. Kaum jemand besitzt noch Dinge. Es war dort an der Tagesordnung, dass Haushalte komplett geplündert wurden. Das liegt daran, dass das ein sehr komplexer Konflikt mit verschiedenen Gruppen war, die durch die Landschaft gezogen sind und die sich dann jeweils bedient haben, wenn sie in Ortschaften Halt gemacht haben.
Außerdem leisten unsere lokalen Partner Trauerarbeit und psychosoziale Beratung. Die Menschen dort haben natürlich Schreckliches durch den Konflikt und die Entbehrungen im Zusammenhang mit dem Konflikt erlebt. Da ist es auch sehr wichtig, dass die Leute psychisch aufgefangen werden.
Wir haben mit riesigen Vertreibungsbewegungen zu tun. Es ist wie in anderen Krisen auch. Die Menschen sind strukturell unterversorgt. Es fehlt im Prinzip an allem, und das sind nur die kurzfristigen Bedarfe. Wenn wir über Tigray strukturell sprechen, gab es riesige Verwüstungen. Das ganze Bildungssystem und das ganze Gesundheitssystem wurden zerstört. Da kommt ein ziemlicher Berg auf die lokalen Organisationen in den nächsten Jahren zu.
DOMRADIO.DE: Wie können die Menschen in Deutschland helfen?
Müller: Wir sind der Meinung, dass humanitäre Hilfe aktuell einer der größten Bedarfe in der Region ist. Selbstverständlich ist es möglich, für unsere Projekte zu spenden. Die Menschen freuen sich auch sehr über Aufmerksamkeit und Gebete für die Region.
Ich möchte an dem Punkt auch noch mal sagen, dass die Menschen vor Ort sehr, sehr positiv waren und einen sehr großen Tatendrang haben. Wir haben jetzt kurzfristig einen großen Bedarf an humanitärer Hilfe. Aber sie wird uns auf Jahre beschäftigen. Die Menschen haben großen Tatendrang. Aber alles, was wir leisten können, finanziell oder ideell, um den Wiederaufbau dort in der Region zu zu stärken, wird sehr gerne gesehen und sehr geschätzt von den Menschen.
Ich habe den Bischof in Adigrat getroffen, der für Tigray verantwortlich ist. Er hat sich für die bestehende Hilfe aus Deutschland explizit bedankt. Da wurden bereits tolle Dinge umgesetzt. Aber die Arbeit wird weitergehen. Und wir müssen aufpassen, dass Tigray uns im Bewusstsein bleibt, dass wir in diesen ganzen Krisen, die momentan in Ostafrika passieren, nicht aus den Augen verlieren, dass die Leute aus Tigray in den nächsten Jahren unsere Hilfe brauchen werden.
Das Interview führte Mathias Peter.