DOMRADIO.DE: Etwa 26 Prozent der Menschen in Gelsenkirchen beziehen Sozialleistungen. Hat die Region immer noch mit dem Strukturwandel nach der Kohle- und Industrie-Ära zu kämpfen oder gibt es auch andere Gründe?
Sabine Depew (Diözesan-Caritasdirektorin im Bistum Essen): Grundsätzlich kann man sagen, dass der Strukturwandel in der Region eigentlich recht gut vollzogen worden ist und sich da auch sehr viel kreatives und innovatives Potenzial gebildet hat – neue Geschäfte und Dienstleistungen.
Es gibt aber auf der anderen Seite trotz sinkender Arbeitslosenzahlen eine Zunahme von Armut. Das heißt, jedes zweite oder dritte Kind – das hat auch die Studie der Bertelsmann-Stiftung ergeben – lebt in einer Familie, die massiv von Armut betroffen ist. Außerdem liegen die Durchschnittsgehälter in Städten wie Gelsenkirchen oder Essen zwischen 16 000 und 23 000 Euro brutto Jahreseinkommen.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet das für die Menschen im Alltag?
Depew: Das ist im Grunde ein Kreislauf. Dieses geringe Jahreseinkommen führt auf der einen Seite dazu, dass die Steuereinnahmen in den Kommunen nicht so hoch wie in anderen Kommunen in Deutschland sind. Das wiederum hat zur Folge, dass beispielsweise Bildungsangebote, wie Schulen, Kitas, Einrichtungen der sozialen Arbeit und auch Einrichtungen zur Altenhilfe, nicht in der Weise ausgestattet sein können, wie das beispielsweise in Bayern der Fall ist. Und das wiederum führt dazu, dass die Chancen von Kindern, die in solche Schulen oder Kitas gehen, verringert sind, weil sie eben nicht die gleiche Qualität an Ausbildung erfahren. Im Grunde genommen ist das ein Rattenschwanz. Eine Spirale nach unten.
DOMRADIO.DE: Dazu kommt ja noch, dass das Leben in der Stadt mit Mieten, Dienstleistungen, Nahverkehr und so weiter ohnehin schon teurer ist als auf dem Land.
Depew: Genau, so ist es. Das Leben ist grundsätzlich teurer. Gerade auch das Wohnen ist ein großes Thema in der Region. Bis hin zu dem Unwort "Schrottimmobilien", das eben beschreibt, dass es sehr hohe Mieten gibt für vergleichbar sehr kleinen Wohnraum. Die Wohnungen sind kaum bezahlbar und oft in einem Zustand, der eigentlich menschenunwürdig ist.
DOMRADIO.DE: Die Studie sagt auch, die Menschen nehmen Armut in der Stadt auch deutlich mehr wahr. Armut ist präsenter. Die Studie fordert dann größere Anstrengungen beim Kampf gegen Armut seitens der Politik. Wo ist denn da dringend Nachholbedarf?
Depew: Wir haben ja einen Solidarpakt für die neuen Bundesländer. Und im Grunde braucht es einen solchen Soli auch für die Ruhrregion. Denn das Besondere an der Region ist, dass es auf der einen Seite sehr viel innovatives Potenzial gibt und auf der anderen Seite aber auch hohe soziale Nöte. Wir fordern einen Digital-Pakt für die soziale Arbeit, um hier verstärkt soziale Innovationen zu fördern.
DOMRADIO.DE: Sie bieten als Caritas Sozialberatung an, helfen bei Arbeitslosigkeit oder auch Schulden und beraten die Menschen. Wie gelingt es Ihnen, Menschen aus der Armut zu holen?
Depew: Wir unterstützen mit zahlreichen Beratungsangeboten. Wir fördern aber auch Arbeitsprojekte, beispielsweise um die Integration in Arbeit wieder zu ermöglichen, und bieten auch viele inklusive Maßnahmen für Menschen mit Behinderung an. Die Angebote sind zahlreich. Und ich muss dabei auch ein Kompliment an die Kommunen geben, die wirklich alle Möglichkeiten ausschöpfen, um hier die soziale Arbeit in der Region zu fördern und zu unterstützen. Allerdings ist es ein strukturelles Problem. Das heißt, wir können im Grunde genommen die Not immer nur lindern. Was wir brauchen, ist eine konzertierte Aktion der Politik, die sich hier gezielt einsetzt, um Finanzspritzen in die Region zu bringen.
DOMRADIO.DE: Fühlen Sie sich da ein Stück weit im Stich gelassen, wenn Sie die ganze Zeit an der Basis dafür arbeiten, aber von Seiten der Politik zu wenig passiert?
Depew: Wenn man sich den Koalitionsvertrag von Nordrhein-Westfalen oder auch die Bundespolitik anguckt, dann ist es ein Stück so, als wenn diese Region nicht im Blick ist. Und selbst bei Anstrengungen, die derzeit laufen wie die Ruhr-Konferenz, ist meine Hoffnung nicht allzu groß. Denn auch da vermisse ich den sozialen Aspekt deutlich. Da fühlen wir uns ein Stück im Stich gelassen.