Christen helfen Migranten in italienischem Urlaubsparadies

Leben in Parallelwelten

Ventimiglia ist ein Paradies für Urlauber. Doch an dem italienischen Grenzort zu Frankreich stranden auch viele Flüchtlinge auf ihrer Weiterreise. Sie leben dort unter unmenschlichen Bedingungen. Parallelwelten mitten in Europa.

Autor/in:
Dagmar Peters
So idyllisch kann Ventimiglia aussehen / © Rostislav Glinsky (shutterstock)
So idyllisch kann Ventimiglia aussehen / © Rostislav Glinsky ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie haben die Grenzstadt Ventimiglia besucht, einen Ort, den viele Menschen mit Urlaub verbinden. Sie haben dort nicht Urlaub gemacht, sondern waren zur Recherche dort und haben viel Leid gesehen. Das hat mit der Situation von Flüchtlingen zu tun. Inwiefern?

Doretta Deutsch (privat)
Doretta Deutsch / ( privat )

Dorette Deutsch (Journalistin): Obwohl ich in Ligurien einen Teil des Jahres verbringe, war mir selber eigentlich gar nicht klar, dass Ventimiglia gewissermaßen ein Nadelöhr sowohl zwischen der Balkanroute als auch der zentralen Mittelmeerroute nach Nordeuropa ist.

Ventimiglia liegt fünf Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Die Migranten kommen aus der Sub-Sahara, Afghanistan und dem Irak und wollen von dort aus nach Frankreich und weiter nach Belgien, Deutschland, Schweden, Norwegen und Nordeuropa. 

Dorette Deutsch

"Das ist die Bankrotterklärung der Menschlichkeit."

Eigentlich leben wir inzwischen in Parallelwelten. Ich bin mir ganz sicher, dass das auch niemand merkt oder sieht, der in Ventimiglia Urlaub macht.

Was ich gesehen habe, war so schrecklich, dass ich gedacht habe, dass wir als Menschheit am Ende angekommen sind und dass das eigentlich die Bankrotterklärung der Menschlichkeit ist. Und dass, obwohl es relativ wenige Immigranten zu dem Zeitpunkt waren. 

Vor über zehn Jahren sind die staatlichen Aufnahmestrukturen dort abgebaut worden. Seitdem leben die Migranten und Migrantinnen unter einer Brücke. Es gibt den Fluss Roya, der durch ganz Ventimiglia führt und im Meer endet. An einer Stelle führt er so gut wie kein Wasser und da leben die Menschen. Es ist einfach grauenhaft. 

Es waren bis ins letzte Jahr hinein 500 Menschen, als ich vor drei Wochen dort war, waren es noch 70 Leute. Die Männer leben dann in Zelten, die furchtbar heruntergekommen sind, alles im Freien, auf schmutzigen Matratzen. Es riecht wie in einer furchtbaren Kloake. Dort leben auch Frauen, die dann in einem getrennten Bereich mitten im Schilf untergebracht sind.

Dorette Deutsch

"Hilfe bekommen sie ganz grandios von der Caritas."

DOMRADIO.DE: Die Aufnahmeeinrichtungen für geflüchtete Menschen sind dort alle abgebaut worden. Was bedeutet das für die Menschen, die noch dort sind, auf der Flucht und nicht in die Heimat zurück können? Von wem bekommen sie denn Hilfe und Unterstützung?

Deutsch: Hilfe bekommen sie ganz grandios von der Caritas, aber genauso von der Waldenser Gemeinschaft, der Evangelischen Kirche und von der Pfarrgemeinde vor Ort. Ich habe ein ganzes Wochenende mit denen verbracht. Hilfe kommt auch von einer ganzen Reihe von Ehrenamtlichen, das sind Vereine sowohl aus Frankreich als auch aus Italien, die am Abend dort Essen verteilen. 

Menschen organisieren Hilfe für Geflüchtete in Ventimiglia / © Dorette Deutsch (privat)
Menschen organisieren Hilfe für Geflüchtete in Ventimiglia / © Dorette Deutsch ( privat )

Ventimiglia ist deshalb Nadelöhr, weil so gut wie keiner in Italien bleiben will. Italien ist von dieser Flüchtlingsbewegung besonders getroffen, denn viele kommen aus Lampedusa und wollen dann aber weiterziehen. Fast niemand will dort bleiben. Die meisten bleiben drei, vier Tage. Im letzten Jahr sind 20.000 Menschen durch Ventimiglia gereist. 

Man kann sich vorstellen, dass da eine ständige Bewegung herrscht, was auch den Anwohnern Angst macht. Es ist einfach eine unglaubliche Fluktuation. Die Migranten versuchen oft über die Grenze zu gelangen, häufig in Zügen, aus denen sie dann von der Polizei wieder rausgeholt werden. Manche versuchen auch in den Bergen über den sogenannten Todespass zu kommen. Man kann sich vorstellen, warum der so heißt. Viele geben sich in die Hände von Schleppern, die die Migranten ausbeuten, schlagen, misshandeln und berauben.

DOMRADIO.DE: Die wenigen Caritasangehörigen und Gemeindemitglieder, die die Menschen dort unterstützen, können das vor Ort sicher nicht alleine stemmen. Was müsste aus Ihrer Sicht da passieren?

Ein Flüchtlingszelt in Ventimiglia / © Dorette Deutsch (privat)
Ein Flüchtlingszelt in Ventimiglia / © Dorette Deutsch ( privat )

Deutsch: Als ich dort war, waren 70 Migranten dort. Die Menschen vor Ort haben das schon gestemmt. Man muss sich das Caritasgelände wie eine kleine Welt in der großen Welt vorstellen, wo es einen geschützten Raum für Frauen und Kinder gibt, wo es eine Essensausgabe gibt, wo man sich Wasser holen kann. Die Menschen haben ja gar nichts. Die haben noch nicht mal ein Glas Wasser, dort wo sie leben, und Geld schon mal gar nicht. 

Ich will gar nicht so viel über die Politik reden, sondern von meiner Recherche erzählen. Es muss eine gesamteuropäische Lösung geben, denn die Italiener, die ich gesprochen habe, beklagen sich zu Recht, dass sie mit dem Problem alleingelassen werden. 

Dorette Deutsch

"Ich finde es schlimm, dass die Politik diese Umstände instrumentalisiert, vor allem in Wahlkampfzeiten."

Ganz vorbildlich ist zum Beispiel die Gemeinschaft von Sant'Egidio, die zusammen mit anderen humanitäre Korridore eingerichtet haben. Das heißt, dass die Menschen im Heimatland mit legalen Papieren für die Ausreise versorgt werden und dann ausreisen können und natürlich auch arbeiten, denn wir brauchen ja die Arbeitskraft von Migranten. Ich finde es schlimm, dass die Politik diese Umstände instrumentalisiert, vor allem in Wahlkampfzeiten.

DOMRADIO.DE: Wenn die Politik im Land das schon nicht in dem Sinne unterstützt, wie es nötig wäre, wie ist dann die Haltung der Kirche in Italien zur Situation der Flüchtlinge? Und gibt es da Menschen, die sich zu Ventimiglia speziell geäußert haben?

Franziskus auf Lampedusa (dpa)
Franziskus auf Lampedusa / ( dpa )

Deutsch: Zu Ventimiglia weiß ich das im Speziellen nicht. Aber ich zitiere sehr gerne den Papst, der gesagt hat, die Kultur des Wohlstands, bei der wir nur an uns selbst denken, lässt uns gleichgültig gegenüber dem Hilferuf anderer werden. Durch die Globalisierung haben wir die Fähigkeit zu Weinen verloren.

Ich finde, dieser Satz, den er während seiner Reise nach Lampedusa zu Beginn seiner Amtszeit geäußert hat, gilt einfach für ganz viele Situationen. 

Und für Ventimiglia gilt sicher, dass viele Einwohner selber italienischen Migrationshintergrund haben, also aus anderen Provinzen dorthin gekommen sind und auf der einen Seite ein unglaublich großes Herz haben, aber gleichzeitig dieser Situation müde sind.

Man muss sich vorstellen, dass die Leute hier ständig dieses Elend vor Augen haben - und das seit zehn Jahren, nicht erst seit gestern.

DOMRADIO.DE: Was hat diese Recherche mit Ihnen persönlich gemacht? Waren Sie überrascht von dem, was Sie da erlebt und gesehen haben?

Dorette Deutsch

"Dieses absolute Elend und mehr noch diese Menschenverachtung haben mich so schockiert."

Deutsch: Ja, das muss ich wirklich sagen. Das war die dritte Station. Ich war zuvor in Bardonecchia, auch an der italienisch-französische Grenze, wo die Migranten nachts bei minus 30 Grad aus den Zügen geholt wurden. Grauenhaft.

Ich war sehr häufig auf Lampedusa. Und Lampedusa ist, glaube ich, der einzige Ort auf der Welt, wo kein Migrant auf der Straße ist. Die sind in einem Aufnahmezentrum abgeschottet. 

Menschen organisieren Hilfe für Geflüchtete in Ventimiglia / © Dorette Deutsch (privat)
Menschen organisieren Hilfe für Geflüchtete in Ventimiglia / © Dorette Deutsch ( privat )

Dieses absolute Elend und mehr noch diese Menschenverachtung haben mich so schockiert. Das habe ich an anderen Orten in dieser Form nicht erlebt.

Das war diesen Sommer auch in der italienischen Presse, weil die Migranten bei fast 40 Grad kein Wasser hatten. Sie haben sich auf dem Friedhof, der gegenüber der Brücke liegt, am Friedhofbrunnen Wasser geholt. Daraufhin hat der rechtspopulistische Bürgermeister vor dem Friedhof Wachen aufstellen lassen. Ich finde es nahezu ungeheuerlich.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Sant'Egidio - Überblick

Die im Mai 1968 in Rom entstandene katholische Bewegung Sant'Egidio widmet sich der karitativen Arbeit, der Diplomatie in Bürgerkriegsgebieten sowie dem Dialog der Religionen. Sie hat nach eigenen Angaben rund 60.000 Mitglieder in 70 Ländern, davon 5.000 in Deutschland. Ihr Hauptsitz befindet sich im römischen Stadtteil Trastevere, ihr deutsches Zentrum seit 1983 Würzburg. Seit 1986 ist die ökumenisch stark engagierte Gemeinschaft von der katholischen Kirche als Laienvereinigung anerkannt. Finanziert wird ihre Arbeit durch Mitgliedsbeiträge, Spenden sowie durch öffentliche Zuschüsse.

Logo der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio / © Paolo Galosi/Romano Siciliani (KNA)
Logo der katholischen Gemeinschaft Sant'Egidio / © Paolo Galosi/Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR