Christen in Syrien blicken verunsichert in die Zukunft

Ungewisse Weihnachten

Seit dem Sturz des Assad-Regimes leben viele Christen in Syrien in Sorge um ihre Zukunft. Die neuen Machthaber sind Islamisten, geben sich aber moderat. Trotzdem haben manche Gemeinden Gottesdienste und öffentliche Feiern abgesagt.

Autor/in:
Von Rena Netjes und Marion Sendker in Syrien
Die lateinische Kirche in Azaziyah, Aleppo (Franz-von-Assisi-Kathedrale) / © Rena Netjes (privat)
Die lateinische Kirche in Azaziyah, Aleppo (Franz-von-Assisi-Kathedrale) / © Rena Netjes ( privat )

Eine Straße im christlichen Viertel von Damaskus: Der Name dieser Nachbarschaft ist viele hundert Jahre alt, er stammt aus der Zeit, als Damaskus noch römisch war: Bab Tuma heißt die Gegend seither, Tor des Thomas. Mehrere tausend Christen verschiedener Konfessionen und Kirchen leben hier. Wie jedes Jahr, haben sie auch in diesem Dezember ihr Viertel geschmückt. 

Geschäft für Weihnachtsgeschenke und -dekorationen  / © Rena Netjes (privat)
Geschäft für Weihnachtsgeschenke und -dekorationen / © Rena Netjes ( privat )

Lichterketten hängen über manchen Straßen, die Schaufenster sind voll mit Schneemännern, roten Figuren aus Stoff und grünen Kränzen aus Plastik. Das Viertel sieht aus wie jedes Jahr zu Weihnachten. Nur ein Detail verrät, dass dieser Dezember anders ist: An fast jedem Haus ist die Flagge der syrischen Revolution zu sehen. Unter dieser Fahne hatten Rebellengruppen vor drei Wochen das Regime von Machthaber Bashar al-Assad gestürzt.

Viele Christen sind vorsichtig geworden

"Jetzt wird alles besser", sagt ein junger Mann, der mit seiner Freundin an diesem Tag kurz vor Weihnachten durch die Straßen schlendert. Die beiden sind Katholiken und wohnen in Damaskus. Ihre Namen wollen sie hier nicht lesen. Das Ende Assads war für die meisten Syrer ein Grund zum Feiern, auch für Christen. Früher habe das Regime Zwietracht und Spaltung gesät, sagt der Mann. "Aber jetzt sind wir alle Syrer, egal von welcher Sekte oder Gruppe wir kommen: Der Christ ist wie der Sunnit, wie der Alawit, wie der Druse, wie der Kurde."

Bei vielen Christen ist aus der anfänglichen Euphorie aber mittlerweile Vorsicht geworden. Auch der Mann und seine Freundin geben zu, dass sie nicht wissen, was sie erwarten sollen. "Ich kann noch nicht sagen, dass es uns jetzt besser gehen wird", gibt er zu. Das alte Regime war eine Diktatur, aber säkular. Assad war brutal, doch die Christen ließ er gewähren. Die Rebellen werden dagegen angeführt von einer islamistischen Miliz: Hayat Tahrir al Sham (HTS), früher gehörte sie zu Al Quaida, heute stellen ihre Männer die Übergangsregierung Syriens. 

"Wir können nur hoffen, dass sie uns nichts antun", meint der Mann. Bisher laufe noch alles gut. Vertreter der neuen Regierung hätten sich mit Kirchenführern getroffen, wichtige Zusagen gemacht und die Christen ermutigt, wie jedes Jahr Weihnachten zu feiern. Trotzdem haben zahlreiche Gemeinden angekündigt, auf öffentliche Feiern zu verzichten. "Wir haben Angst, weil wir nicht wissen, wie es weitergeht", gibt der Mann zu. Wer Angst habe, könne nicht feiern. 

Es gibt Nachrichten von grausamer Verfolgung

Seit Jahrzehnten leben Christen in Syrien mit Zurückhaltung. Wer Assad oder seine Verbündeten kritisierte, wurde inhaftiert. Nach seinem Sturz kursieren landesweit Listen mit Namen von Christen, die noch immer verschwunden sind. Wohl aus Angst vor Auslöschung haben viele Kirchenführer jahrelang zur Brutalität des Regimes geschwiegen. Manche Patriarchen lobten den Diktator sogar und hofierten ihn, wenn er sie an Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern besuchte. Zu Vorwürfen, dass er verantwortlich sei für Folter und Massenmorde, schwiegen sie. Haben Christen damit das Regime unterstützt? 

Nach Darstellung der Hamas sollen Gebäude der griechisch-othodoxen Kirche durch einen israelischen Luftangriff zerstört worden sein / © Mohammad Abu Elsebah (dpa)
Nach Darstellung der Hamas sollen Gebäude der griechisch-othodoxen Kirche durch einen israelischen Luftangriff zerstört worden sein / © Mohammad Abu Elsebah ( dpa )

Seit einigen Tagen kommen immer mehr Nachrichten von grausamer Verfolgung Andersdenkender ans Licht. Das katholische Paar in Bab Tuma ist erschrocken darüber. "Wir haben es nicht gewusst", beteuert der Mann. Sie und alle Christen seien natürlich gegen Ungerechtigkeit. Doch es sei verboten gewesen, über diese Dinge zu sprechen.

Auch in anderen Landesteilen ist bei Christen die Vorsicht größer als die Freude über den Regimesturz. "Wir können nichts tun außer abwarten", sagt Gabriel, ein älterer Herr in Aleppo. Er lebt in einem Viertel, das christlich geprägt ist und tritt gerade aus einem Café auf die Straße. Aus dem Laden tönt die Melodie von “Jingle Bells” und mischt sich mit dem Glockengeläut einer der vielen Kirchen in dieser Gegend. Gabriel erzählt von Zwischenfällen und Angriffen auf Kirchen in anderen Städten Syriens. 

In der Provinz Hama sollen Gruppen der HTS zum Beispiel eine griechisch-orthodoxe Kirche verwüstet haben. Bilder in den sozialen Medien zeigen Einschusslöcher in der Fassade und eine geköpfte Marienstatute. Die zuständige Erzdiözese bestätigte den Vorfall.

Neue Freiheit konnte ausgenutzt werden

Es gibt derzeit viele Meldungen wie diese. Nicht alle können verifiziert werden. Hinter den Übergriffen sollen Banden von Extremisten stecken, manche von ihnen behaupten, zur HTS zu gehören. "Ich bin mir nicht sicher, ob die Regierung es schafft, alle Gruppen im Land zu kontrollieren“, sagt Gabriel. 

Syrien ist ein Mosaik aus religiösen und ethnischen Gruppen, ein Großteil der Bevölkerung ist in Stämme und Clans unterteilt. Nach Jahrzehnten der Diktatur könne die neue Freiheit ausgenutzt werden, fürchtet Gabriel. Aleppo habe sich seit dem Umsturz verändert: "Wir können jetzt freier sprechen und vielleicht auch handeln, aber wenn es dunkel wird, kommen Diebe und Kriminelle." Er seufzt, sieht sich um und starrt dann auf einen kleinen Weihnachtsbaum, der im Schaufenster des Cafés steht. "Wir wollen hoffen, das wollen wir alle", sagt er leise, bevor er sich auf den Heimweg macht.

Joseph Fannoun und die Flaggen der syrischen Revolution
 / © Rena Netjes (privat)
Joseph Fannoun und die Flaggen der syrischen Revolution / © Rena Netjes ( privat )

Nur einen Straßenzug weiter ist die Stimmung ausgelassener. "Eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins", ruft Joseph Fannoun, ein katholischer Syrer, jedes Mal, wenn seine Ladentür aufgeht. Dazu schwingt er eine kleine Glocke. Fannoun verkauft Schmuck, Parfüm und Devotionalien. Ein Mosaik der Mutter Gottes hat er mit Flaggen der syrischen Revolution geschmückt. 

Ein paar Tage nach dem Regimesturz habe er Rosen an Passanten verteilt, erzählt Fannoun. Angst vor der Zukunft hatte er nur am Anfang. "Ich habe mich drei Tage versteckt", sagt er und grinst. HTS war schon vor ihrem Durchmarsch auf die Hauptstadt Damaskus landesweit bekannt. Sie kontrollierte Teile der Provinz Idlib im Nordwesten des Landes. Dort waren die Kämpfer einst brutal gegen Christen vorgegangen. Vor ein paar Jahren begann die Miliz, ein neues Gesicht zu zeigen. Gottesdienste wurden erlaubt, Kirchen renoviert. Nur in der Öffentlichkeit durfte das Christentum de facto nicht existieren: Glockengeläut oder Kreuze blieben verboten.

Fannoun glaubt aber nicht, dass die Islamisten ganz Syrien so regieren werden wie Idlib. Außerdem sei alles besser als Assad. Unter ihm seien manchmal Anhänger des Regimes in sein Geschäft gekommen, hätten geplündert und ihn gezwungen ein Bild des Machthabers aufzuhängen. In dem Moment geht die Ladentür wieder auf. Fannoun eilt mit seiner Glocke und seinem Schlachtruf der neuen Kundschaft entgegen. 

Christinnen fürchten sich

Unweit seines Ladens ist von so viel Freude nichts mehr zu spüren. In einem Kellerraum der lateinischen Franz-von-Assisi-Kirche bereiten Frauen verschiedener christlicher Konfessionen eine Adventsfeier vor. Der Saal ist weihnachtlich geschmückt. An den Türen klebt Geschenkpapier, auf den Tischen stehen leere Pappbecher und mit Frischhaltefolie umhüllte Keksteller. Die Frauen falten gerade kleine Zettel für die Besucher. "Fürchtet euch nicht", steht in arabischen Buchstaben über einem Bild von Joseph, der den kleinen Jesus hält. 

Frauen bereiten einen Kaffeetisch für eine Adventsfeier in der lateinischen Kirche in Azaziyah, Aleppo, vor / © Rena Netjes (privat)
Frauen bereiten einen Kaffeetisch für eine Adventsfeier in der lateinischen Kirche in Azaziyah, Aleppo, vor / © Rena Netjes ( privat )

Doch die Christinnen fürchten sich: vor der neuen Regierung und mehr noch vor der Selbstjustiz ihrer Mitbürger. "Früher haben wir uns sicher gefühlt", sagt eine. Sie und die anderen wollen hier nicht mit ihren Namen auftreten. "Drei Häuser unserer Gemeinde werden gerade quasi belagert", sagt eine Frau mit blond gefärbten Locken und großer Brille. Es gehe nicht um Religion, sondern um Gebietsansprüche, sagt sie. "Kurdische Milizen wollen die Gegend kontrollieren und haben Straßensperren aufgebaut." Vor allem nachts sei es dort nicht mehr sicher – nicht für Christen und nicht für Muslime.

Diese kurdischen Milizen fürchten um ihre Macht, denn sie standen jahrelang auf der Seite Assads. Er hatte ihnen 2012 einen Deal angeboten: Sie bekamen weite Gebiete im Osten des Landes und sorgten dafür, dass kurdische Syrer sich nicht gegen den Machthaber auflehnten. Danach begann ein verworrenes Geflecht von Kooperationen. Die kurdischen Milizen ließen sie von den USA unterstützen, um gegen die Terrormiliz Islamischer Staat vorzugehen und arrangierten sich gleichzeitig mit Assads wichtigsten Verbündeten Iran und Russland. 

Kurdische Milizen wollten Wohnungen der Christen beschlagnahmen

Weil tausende Kurden aus den Gebieten vor den islamischen und kurdischen Extremisten flohen, rekrutierten sie die Bevölkerung: verarmte Araber, unter ihnen auch ein paar Christen, sagt Gabriel Moshe Koreih, Präsident der Assyrischen Demokratischen Organisation in der nordöstlichen Stadt Qamischli, am Telefon. Er glaubt aber, dass diese Zweckgemeinschaften sich bald auflösen werden. Die Gegend wurde zwar noch nicht von HTS eingenommen. Doch eine andere Front rückt näher: Brigaden der Assad-feindlichen Syrischen Nationalarmee (SNA), unterstützt vom Nachbarstaat Türkei, haben vor gut zwei Wochen Operationen gegen die kurdischen Machthaber gestartet und bereits strategisch wichtige Gebiete eingenommen.  

Ein syrischer Mann steht vor einer Fahne während einer spontanen Demonstration zum Sturz des Assad-Regimes in Syrien / © Petros Karadjias/AP (dpa)
Ein syrischer Mann steht vor einer Fahne während einer spontanen Demonstration zum Sturz des Assad-Regimes in Syrien / © Petros Karadjias/AP ( dpa )

Koreih erzählt, dass die kurdischen Milizen nach Assads Sturz Wohnungen der Christen beschlagnahmen wollten, um sie an Unterstützer der kurdischen Einheiten zu geben, die aus Städten wie Aleppo fliehen würden. "Aber wir haben uns gewehrt und wehren uns weiter." Seit dem Umsturz seien Christen mutiger geworden. Die verschiedenen Kirchen würden jetzt zusammenrücken. "Christliche Parteien, die unter den kurdischen Machthabern verboten waren, kommen jetzt raus aus ihren Verstecken", sagt er. Sie würden sich mit anderen Christen und arabischen Stammesvertretern in der Gegend treffen und die Zukunft planen.

Doch auch diese neue Freiheit sei nicht ohne eine neue Angst vor der Zukunft, sagt Koreih. Natürlich seien die Christen glücklich, dass Assad verschwunden ist. Die Verhältnisse unter ihm und den kurdischen Milizen nennt er Tyrannei. Doch was, wenn wirklich am Ende die Islamisten Syrien beherrschen, fragt er. Viele fürchteten sich davor, dasselbe unter einem neuen Gewand wieder durchleben zu müssen. "Wir müssen abwarten", sagt er. In manchen Gegenden Nordostsyriens nahe der Frontlinien gebe es manchmal Ausgangssperren. Was ist dann mit Weihnachten? "Das macht nichts", sagt Koreih. In der Gegend gebe es genügend Kirchen, die zumindest für die Gottesdienste geöffnet hätten: "Weihnachten findet natürlich statt."

Quelle:
DR