DOMRADIO.DE: Braucht Demokratie Spiritualität?
Prof. Martin Kirschner (Theologieprofessor an der Katholischen Universität Eichstätt): Ich denke, in einer Richtung ist Demokratie so gebaut, dass sie nicht von Spiritualität abhängig ist. Es geht darum, Herrschaft zu begrenzen indem wir die Herrschenden abwählen können. Von daher müssen Herrscher praktisch immer neu vom Volk legitimiert werden. Und das ist nicht von Spiritualität abhängig.
Aber Demokratie ist ja unheimlich viel mehr. In der Demokratie geht es darum, das Gemeinwesen gemeinsam zu gestalten und dafür braucht es Zusammenhalt, Zusammengehörigkeit. Dafür braucht es Respekt voreinander. Dafür braucht es Konfliktfähigkeit und Solidarität, immer wieder auch die Kraft zur Versöhnung und vor allem die Fähigkeit, die Hoffnung nicht aufzugeben. Und das sind sehr stark spirituelle Themen.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben wir den Begriff Demokratie ein wenig auseinandergenommen. Lassen Sie uns noch auf den anderen Begriff blicken. Was heißt denn Spiritualität? Und gibt es "die" Spiritualität?
Kirschner: Das ist natürlich schwierig zu definieren, weil Spiritualität ganz unterschiedlich gefasst wird. Ich würde es sehr weit fassen: als eine Haltung im Leben, als eine Lebensform, auch als eine Form des Zusammenlebens. Ich würde vor allen Dingen damit in Verbindung bringen, dass es darum geht, mit dem Unverfügbaren umzugehen und das Unverfügbare als Unverfügbares anzunehmen. In dem Sinn, wie das Wort ja selbst sagt: die Offenheit, den Geist. Also den Geist einerseits, den menschlichen Geist - unsere Freiheit - und andererseits den göttlichen Geist, der weht, wo er will, und wie sich das zueinander verhält.
Das können wir gar nicht aufdröseln, weil das Leben immer ein Stück weit Geschenk ist, Ereignissen zugespielt wird, und wir gleichzeitig in unserer Freiheit darauf antworten müssen.
Wenn ich noch einen Punkt ergänzen dürfte: Zur Spiritualität gehört immer auch die Unterscheidung der Geister. Also, von welchem Geist lasse ich mich bestimmen, um dem Leben zu dienen und in der Freiheit zu bleiben?
DOMRADIO.DE: Nun ist es ja so, dass wir in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft leben. Welche Rolle spielt die christliche Spiritualität für die Demokratie unseres Landes heute noch?
Kirschner: Wenn man mit der Frage meint "Welche Rolle spielt christliche Religion?", dann wäre das sehr, sehr ambivalent, weil Religion immer auch die Gefahr von einem Machtzugriff auf den Menschen in sich birgt. Christliche Spiritualität würde ich so fassen, dass der Kern der Glaube ist, dass wir von einem guten Gott herkommen und auf ihn hinleben. Dass dieser Gott entzogen ist, unverfügbar. Dass wir keinen Zugriff auf diesen Gott haben, aber dass er uns entgegenkommt. Dass er sich verletzlich macht in der Geschichte, bis hinein zur Inkarnation, bis hinein zum Kreuz. Und dass er in der Geschichte wirkt, im Geist.
Von daher sehe ich christliche Spiritualität sehr, sehr affin mit Demokratie. Und in dem Sinne spielt sie, glaube ich, eine große Rolle. Nur eben häufig im Konflikt auch mit Kirche und etablierter Religion und auch in einer gewissen Spannung zum Glauben, der auf Wahrheit zielt. Das war jedenfalls eine Unterscheidung, die Hans-Joachim Sander in unserem Symposion eingebracht hat zwischen Glaube, Religion und Spiritualität. Und mit dieser Unterscheidung haben wir auch gearbeitet.
DOMRADIO.DE: Unsere Demokratie wie auch die Kirchen befinden sich in einem globalen Wettbewerb mit sehr unterschiedlichen Wertesystemen. Braucht es da nicht festgefügte, spirituelle Sicherheiten?
Kirschner: Also, in meinen Augen wesentlich brisanter als der globale Wettbewerb zwischen den Religionen oder zwischen den politischen Systemen ist der Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Haltungen oder Stilen: einerseits eine Haltung, die versucht, Sicherheit herzustellen, Kontrolle auszuüben und dadurch die Krisen, in denen wir leben, zu überspielen. Auf der anderen Seite eine Haltung, die ich als Spiritualität bezeichnen würde, die sich dem Unverfügbaren stellt, die versucht, gemeinsam durch die Krisen hindurchzugehen und nach Lösungen zu suchen. Das ist so etwas wie eine weiche Form von Politik und Religion, die vom Miteinander lebt.
In allen Religionen und Kulturen haben wir gerade diesen Konflikt zwischen offenen Formen von Religion und Politik, einer Spiritualität, die auf Vertrauen setzt und auf das offene Miteinander von Menschen; auf der anderen Seite haben wir fundamentalistische und identitäre Gefährdungen, die versuchen, Zugriff und Kontrolle im religiösen wie im politischen Bereich herzustellen. Denken Sie nur an das Erfolgsmodell China, wo ja eine ganz starke Kontrolle über die Bürger ausgeübt wird und die Freiheit massiv gefährdet ist.
DOMRADIO.DE: Am Samstag ist das Symposium zu Ende gegangen. Was haben Sie als Anregung mitgenommen?
Kirschner: Ich würde drei Dinge nennen: Zum einen, dass wir in einer Zeit massiver Krise, Gefährdung, Verunsicherung leben und hier Spiritualität dringend brauchen, um das auszuhalten. Um uns dem zu stellen, ohne solche Scheinsicherheiten zu konstruieren und miteinander nach Lösungen zu suchen.
Zum anderen nochmal diese Unterscheidung, die ich schon angesprochen hatte zwischen Religion, Glauben und Spiritualität.
Zum dritten - das würde ich gerne noch betonen - haben wir auch darüber diskutiert, ob Religion und Kirche denn Demokratie brauchen. Also, wir haben die Frage nochmal umgedreht, gerade auch im Zusammenhang mit den Ereignissen in Köln, mit den Auseinandersetzungen mit dem Synodalen Weg, was alles auch sehr präsent war. Wir haben auch mit Bischof Gregor Maria Hanke diskutiert: Was heißt eigentlich eine Demokratisierung von Kirche, damit Spiritualität zum Tragen kommt?
DOMRADIO.DE: Das klingt nach einer sehr spannenden Frage. Was sind denn da für Positionen gefallen? Braucht Kirche Demokratie?
Kirschner: Ja, ich würde drei Dimensionen unterscheiden. Demokratie wie Kirche brauchen dieses gemeinsam auf dem Weg sein, sie brauchen Partizipation, offene Kommunikation, das Überschreiten von Fronten immer wieder neu, um sich den Problemen zu stellen, gemeinsam Zukunft zu gestalten, das, was jetzt unter Synodalität diskutiert wird.
Zum Zweiten: In der Kirche gibt es ein Defizit an klaren Verfahren und an Gewaltenteilung und Machtteilung, sodass das Recht die Freiheit schützt und auch vor Missbrauch schützt, die Opfer schützt. Und hier haben wir große Defizite in der katholischen Kirche, was zu einem starken Glaubwürdigkeitsverlust führt.
Und zum Dritten: Politik und Kirche unterscheiden sich in ihrer inneren Logik. Bei der Kirche geht es um ein gemeinsames Bezeugen des Glaubens an Gott und geht es von daher darum, die unterschiedlichen Bezeugungsinstanzen, die unterschiedlichen Orte, wo Gott begegnet, die unterschiedlichen Zeugnisse von Gott im Gespräch miteinander zu bringen. Das ist nochmal was anderes als eine politische Interessensvertretung.
Das Interview führte Moritz Dege.