Christlicher Sozialethiker mahnt neue Politik gegenüber China an

Mehr kulturelles Gespür statt erhobener Zeigefinger

Die Volksrepublik China hat ihr 75-jähriges Bestehen gefeiert. Pünktlich zu diesem Termin hat der christliche Sozialethiker Elmar Nass ein Buch über das Reich der Mitte geschrieben. Er fordert eine neue Strategie in der Chinapolitik.

Chinas Präsident Xi Jinping hält eine Rede nach der Vereidigung der neuen Regierung von Hongkong / © Selim Chtayti (dpa)
Chinas Präsident Xi Jinping hält eine Rede nach der Vereidigung der neuen Regierung von Hongkong / © Selim Chtayti ( dpa )

DOMRADIO.DE: Herr Prof. Nass, Sie haben ein neues Buch geschrieben. Das heißt "Der globale Puppenspieler - die Vision von Xi Jinping und eine Antwort der Freiheit". Worum geht es? 

Elmar Nass (Christlicher Sozialethiker und Prorektor der Kölner Hochschule für Katholische Theologie): Ich möchte dafür sensibilisieren, dass China, das Reich der Mitte, vor allem die Partei- und Staatsführung, nicht nur ein politischer Player ist, sondern die Welt mit eigenen Ideen und Wertvorstellungen grundlegend verändern möchte. Das geschieht schleichend. Wir müssen wachsam sein und einen Blick dafür haben, was auf uns zukommt. Wir müssen Strategien entwickeln, wie wir auf diese chinesische Umstrukturierung und Neuordnung der Welt reagieren können.

Prof. Dr. Dr. Elmar Nass (privat)
Prof. Dr. Dr. Elmar Nass / ( privat )

DOMRADIO.DE: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie eine westliche Werte-Brille aufsetzen, die durch das Christentum und die Aufklärung geprägt ist. Wieso halten Sie diese Perspektive für wichtig?

Nass: Ich schaue mir China aus einer sozialethischen Perspektive an; die Werte, das Verständnis von Freiheit, Menschenrechten, Würde, Gerechtigkeit. Das sind alles schöne Begriffe und wir glauben, dass wir diese Begriffe alle gleich verstehen. Das ist aber nicht so. In China verbergen sich hinter diesen Begriffen ganz andere Inhalte als in unserem freiheitlich demokratischen System, das durch das Christentum und die Aufklärung geprägt wurde.

DOMRADIO.DE: Wie sollte ein Umgang mit China Ihrer Meinung nach aussehen?

Nass: Bevor man eine Strategie entwickelt, muss man den Plan hinter der Politik Xi Jinpings verstehen. Er hat die große Vision, dass China die wichtigste Weltmacht wird. Wir müssen uns anschauen, an welchen Stellen er versucht diese Vision umzusetzen und welche Strategie er dabei fährt. China versucht, etwa durch die sogenannte Neue Seidenstraße, oder die Kontrolle von Handelswegen an Meerengen, weltweit an Einfluss zu gewinnen und andere Länder in Abhängigkeiten zu bringen.

Die Staatsspitze ist dabei ein neues Verständnis von internationalem Recht zu begründen, einen neuen Begriff von Menschenrechten zu definieren, das uns bekannte Wertefundament umzudeuten und westliche Koalitionen zu zersetzen.

Im neuen Buch von Elmar Nass geht es um den Umgang mit China im 21. Jahrhundert.  / © Clemens Sarholz (DR)
Im neuen Buch von Elmar Nass geht es um den Umgang mit China im 21. Jahrhundert. / © Clemens Sarholz ( DR )

DOMRADIO.DE: Was schlagen Sie vor?

Nass: Um dem etwas entgegenzusetzen und etwa bei Fragen von Menschenrechten auch in der Zukunft noch mitreden zu können, dürfen wir uns zum einen nicht von China abhängig machen und zum anderen brauchen wir eine eigene Vision. China will das mächtigste Land der Welt werden, die meisten Bürger Chinas stehen hinter dieser Vision und sind motiviert, diese gemeinsam umzusetzen.

Was haben wir dem entgegenzusetzen? Haben wir eine Vision von unserer Gesellschaft? Haben wir etwas, das die Menschen begeistert? Eine Vision von Freiheit und Demokratie? Oder plätschern diese Begriffe für uns bloß einfach so dahin?

Elmar Nass

"Unsere freiheitliche Demokratie ist ein Riesenschatz, aber sie ist auch fragil." 

DOMRADIO.DE: Was ist mit der Idee der Demokratie?

Nass: Unsere freiheitliche Demokratie ist ein Riesenschatz, aber sie ist auch fragil. Wir müssen uns gemeinsam auf unsere demokratischen Werte verständigen und eine gemeinsame Idee von Freiheit, Menschenrechten und Gerechtigkeit entwickeln. Ich glaube, mit einer solchen gemeinsamen Vision können wir begeistern. Das ist der Ansatz, an dem wir arbeiten müssen. 

Feuerwerkskörper explodieren über dem Victoria Harbour anlässlich des 75. Nationalfeiertags der Volksrepublik China. / © Chan Long Hei (dpa)
Feuerwerkskörper explodieren über dem Victoria Harbour anlässlich des 75. Nationalfeiertags der Volksrepublik China. / © Chan Long Hei ( dpa )

DOMRADIO.DE: Schaut man sich Europa an, scheint das eine schwierige Aufgabe zu sein. Europa ist in Teilen ziemlich zerstritten. Der Rechtspopulismus spaltet Gesellschaften, das Vereinigte Königreich hat die EU verlassen, Viktor Orban trifft sich als selbsternannter Friedensermittler mit Putin und die EU weiß nichts davon.

Nass: Deswegen muss der Westen eine gemeinsame Linie festlegen. Xi Jinping fordert, mit westlichen Ländern und Unternehmen immer nur bilateral zu reden, also nicht mit Koalitionen zu verhandeln. Jeder, der kaufmännisch tätig ist weiß, dass ein solches Machtgefälle dazu führen kann, dass die stärkere Position der schwächeren Position die Spielregeln diktiert. Dagegen müssen wir im Westen, neudeutsch gesprochen, eine Resilienz entwickeln.

DOMRADIO.DE: Wenn man verhandeln will, muss man entweder mächtiger sein oder man braucht gute Argumente oder ein gutes diplomatisches Geschick. Sollte man aus diesem Blickwinkel heraus nicht eher darüber sprechen, wie man China überzeugen kann?

Nass: Man hat lange auf die Strategie "Wandel durch Handel" gesetzt. So hat man gehofft über wirtschaftliche Zusammenarbeit ein Umdenken etwa bei Menschenrechtsfragen herbeizuführen. Aber die letzten Jahre, seit der Machtübernahme von Xi Jinping, lehren uns, dass der Weg dort in eine andere Richtung führt. Es war unsere blauäugige Wunschvorstellung, dass Chinesen zu uns in den Westen kommen, Demokratie und Freiheit kennenlernen und mit diesem Wissen nach China zurückkehren, so dass sich auch in deren Gesellschaftssystem etwas verändert. Aber genau andersherum ist es am Ende gelaufen als erwünscht.

Elmar Nass

"Sie sehen das zum großen Teil als etwas Feindliches an, als eine Gefahr für ihr Weltbild."

Ausgewählte Kader sind hier hingekommen um unser Wertesystem zu erlernen, haben technisches Know how erlernt, und dieses Wissen nutzen sie, um unser System zu durchschauen und es von innen zu zersetzen. Die chinesische Ausbildung hat sie schon so indoktriniert, dass es bei vielen überhaupt kein kritisches Gespür, keine Antenne mehr für unsere Vorstellungen von Freiheit und Menschenrechten gibt. Sie sehen das zum großen Teil als etwas Feindliches an, als eine Gefahr für ihr Weltbild. Deswegen sind, glaube ich, viele dieser Menschen immun für unsere Argumente und das müssen wir berücksichtigen.

Wir stoßen dort mit netten Formeln, Entgegenkommen und Argumenten auf Granit. Denn in China gibt es keine Demokratie. Da gibt es eine klare Meinung: schwarz oder weiß. Und wir sind aus deren Sicht eben auf der Seite des Bösen.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen unsere unterschiedlichen Weltsichten? Die christlich-abendländische Weltsicht und der Konfuzianismus? 

Nass: In China hat die Regierung es geschafft, die alten Traditionen Chinas, den Konfuzianismus, den Daoismus und noch andere Vorstellungen, in das marxistisch-maoistische Weltbild zu integrieren. So konnten die Menschen ihre unterschiedlichen Kulturen, Traditionen und Weisheiten gemeinsam ausleben, und sie haben die Unterschiede nicht mehr als Konkurrenz erlebt. Die Regierung hat das als Synergie verkauft und so die Idee von Einheit und gemeinsamer Identität geschaffen.

Elmar Nass

"Mit dieser Idee tritt man den pluralistischen Gesellschaften im Westen entgegen."

Die chinesische Regierung spricht von Harmonie. Man will eine harmonische Gesellschaft, die diese unterschiedlichen kulturellen Strömungen unter die Führung der Partei vereint. Mit dieser Idee tritt man den pluralistischen Gesellschaften im Westen entgegen. 

Bei uns gibt es Diskurse und unterschiedliche Auffassungen. Bei uns soll gestritten werden. Das Neue soll sich aus dem Austausch der Argumente ergeben. Das gibt es in China nicht. Das Harmonieargument steht drüber und die Harmonie wird durch die Kommunistische Partei vorgegeben. So ist eher eine Uniformität der Gesellschaft entstanden, die andere Kulturen inzwischen adaptiert und dem marxistischen Denken untergeordnet haben.

DOMRADIO.DE: Mit genau dieser Herangehensweise hat China auch große Erfolge vorzuweisen. China hat es geschafft, innerhalb weniger Jahrzehnte einen immensen Anteil von Menschen aus der Armut raus zu holen.

Nass: Dieser Erfolg ist natürlich anzuerkennen. Daran gibt es keinen Zweifel. Man muss sich auch anschauen, welche Dinge diese Entwicklung begünstigt haben und da können wir eine ganze Menge von lernen.

DOMRADIO.DE: Und zwar?

Nass: Wir können von der konfuzianische Tradition und Kultur viel lernen, von den vielen Gemeinschaftswerten, die vermittelt werden, die uns in unserer individualistischen Kultur mehr und mehr verloren gehen. China gelingt es offensichtlich, verschiedene, eigentlich konträre kulturelle Strömungen wie den Marxismus und den Konfuzianismus nicht nur als Gegenspieler zu tolerieren, sondern sie in seiner Synergie zusammenzubringen und ein Einheitsgefühl zu schaffen.

Elmar Nass

"Diese Talente werden erst mal auf’s Land geschickt, um ihren Dienst von der Pike auf zu lernen – und auch um Demut zu lernen."

Ich finde es bemerkenswert, dass Menschen, die eine Führungsposition innerhalb der Partei oder Gesellschaft haben, zunächst mal die Ochsentour durchlaufen müssen. Diese Talente werden erst mal aufs Land geschickt, um ihren Dienst von der Pike auf zu lernen – und auch um Demut zu lernen. Es soll, von der Grundidee her, keine Emporkömmlinge geben, die nur wegen ihrer guten Beziehungen nach oben gelobt werden.

Auch Xi Jinping war vorher in der Provinz. Die Familie fiel unter Mao sogar in Ungnade. Da können wir vielleicht etwas von lernen, dass wir Führungspositionen in der Politik nur mit solchen Leuten besetzen, die sich an der Basis bewährt, Demut erlernt und Leistung erbracht haben. Das halte ich für einen wichtigen Aspekt. Generell glaube ich, dass wir von China viel lernen können. Aber nicht von einem China unter der Knute der kommunistischen Partei.

Die chinesische Staatsführung hat es geschafft, im Volk eine Idee von Einheit zu vermitteln / © Chan Long Hei (dpa)
Die chinesische Staatsführung hat es geschafft, im Volk eine Idee von Einheit zu vermitteln / © Chan Long Hei ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wo müssen wir selbstkritisch sein?

Nass: Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Zusammenhalt Chinas leider auch wegen der Demütigungen, die das Land in der Vergangenheit durch Kolonialmächte erlitten hat, gelingt. Daher gilt der Westen traditionell auch eher als etwas Böses.

Elmar Nass

"Dadurch hat man die Pluralität der Kulturen unterdrückt und das müssen wir selbstverständlich aufarbeiten."

Deshalb müssen wir selbstkritisch sein. In der Vergangenheit sind viele Fehler gemacht worden. Nicht nur in der Zeit des Kolonialismus, auch in der Neuzeit, in der der Westen als Weltpolizei aufgetreten ist und versucht hat anderen Ländern die eigenen Werte aufzuzwingen. Dadurch hat man die Pluralität der Kulturen unterdrückt und das müssen wir selbstverständlich aufarbeiten.

Und wenn unsere Politiker China die Verletzung von Menschenrechten vorwerfen, stößt das dort auf taube Ohren. Denn dort wird auch von Menschenrechten gesprochen. Aber sie werden eben einfach ganz anders definiert. Hier braucht es mehr kulturelles Gespür statt erhobene Zeigefinger. Unsere Kritik muss deshalb ansetzen in der Definition der Menschenrechte, aber nicht in Worthülsen, die in China nicht verstanden werden.

DOMRADIO.DE: Eröffnet diese Neuordnung in der Welt nicht auch die Möglichkeit, mehr Pluralität in der Welt zuzulassen, sodass sich die Völker dieser Welt auf Augenhöhe begegnen?

Nass: Wo eine Grenze der Pluralität, meiner Meinung nach, überschritten wird, ist dort, wo Freiheitsrechte von Individuen beschränkt und mit Füßen getreten werden. Wenn individuelle Menschenrechte geleugnet werden, wenn politische Gegner als Abschaum und Parasiten bezeichnet werden, wenn Menschen durch Erziehungsmaßnahmen in ein totalitäres System gepresst werden sollen, hört für mich die Toleranz und die Freude an einer Pluralität der Systeme auf. 

DOMRADIO.DE: Welche christlichen Tugenden können uns helfen, einen besseren Umgang mit China zu finden?

Elmar Nass

"Zum Zweiten haben wir als Christen den Auftrag, uns kritisch mit der Menschenrechtslage in China auseinanderzusetzen."

Nass: Zum einen kann man sich wertschätzend mit China beschäftigen: Was ist eigentlich der Konfuzianismus? Was steht hinter dieser Weisheitstradition? Wo sind Brücken zum Christentum? Es gibt eine ganze Reihe solcher Brücken, die wir schlagen können. Man kann Freundschaften schließen und einen interkulturellen Schulterschluss versuchen, obwohl uns so manches zunächst fremd erscheint. Das ist durchaus eine christliche Tugend.

Zum Zweiten haben wir als Christen den Auftrag, uns kritisch mit der Menschenrechtslage in China auseinanderzusetzen. Dort werden die Freiheitsrechte und das Recht der Religionsfreiheit mit Füßen getreten. Die christliche Untergrundkirche wird in China verfolgt, den Umgang mit Tibet und den Uiguren können wir auch nicht hinnehmen. Man versucht, die Religion einzunorden und an die Parteidoktrin anzupassen. In Solidarität mit unseren Glaubensschwestern und -brüdern in der Untergrundkirche haben wir auch die Aufgabe, diese Art der Unterdrückung nicht zu verschweigen. 

Zudem haben wir als Christen in Deutschland und den westlichen Ländern den Auftrag, uns unserer eigenen Wertegrundlagen bewusst zu werden. Denn die sind in hohem Maße aus der christlichen Tradition und im christlichen Menschenbild begründet. Es ist unsere Aufgabe, diese Werte in die Diskussion einzubringen. Sie sind das Fundament, mit dem wir am Ende den marxistisch gedeuteten chinesischen Wertevorstellungen und deren Menschenbild etwas entgegensetzen können.

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Katholische Kirche in China

Nach Schätzungen von Experten sind rund 10 Millionen der knapp 1,4 Milliarden Einwohnern der Volksrepublik China Katholiken; die Behörden verzeichnen jedoch lediglich 6 Millionen. Das US-Forschungsinstitut Pew geht von 9 Millionen aus. Als kleine Minderheit haben die Katholiken mit rund 100 Diözesen dennoch landesweit funktionierende Kirchenstrukturen.

Kruzifix in katholischer Kirche in China / © Katharina Ebel (KNA)
Kruzifix in katholischer Kirche in China / © Katharina Ebel ( KNA )
Quelle:
DR