Corona-Pandemie wirkt sich auf Milieukrippe aus

Social Distancing im Veedel

Die heilige Familie steht isoliert für sich. Der Obdachlose, der Junkie und auch das leichte Mädchen aus der Nächelsgasse gehen ungewohnt auf Abstand. In St. Maria in Lyskirchen ist diesmal nichts wie sonst, erklärt Benjamin Marx.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Seit dem 6. Januar stehen die Heiligen Drei Könige bei Maria und dem Jesuskind. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Seit dem 6. Januar stehen die Heiligen Drei Könige bei Maria und dem Jesuskind. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

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"Es ist nicht die Zeit für einen großen Auftritt", findet Krippenbauer Benjamin Marx. "Keine repräsentative Bühne und daher auch kein großer Andrang – wie sonst in der Weihnachtszeit." Der 66-Jährige gehört zur Kirchengemeinde von St. Maria in Lyskirchen und ist seit 25 Jahren für die weit über Stadtgrenzen hinaus bekannte Milieukrippe verantwortlich, die jedes Jahr für Menschen von Nah und Fern der absolute Publikumsmagnet innerhalb der Kölner Krippenlandschaft ist. Und er weiß: Normalerweise stehen die Besucher Schlange, um einen Blick auf das Weihnachtsgeschehen zu werfen, das in der rosa Altstadtkirche – gegenüber dem Kölner Schokoladenmuseum – in der Zeit der 1930er Jahre angesiedelt ist. Vielleicht um dem Himmel ein Stück näher zu sein, wenn sie pilgernd – wie die Hirten oder Weisen aus dem Morgenland – bei ihrem Krippengang den Mensch gewordenen Gottessohn suchen.

Doch Menschenansammlungen dürfen zurzeit nicht sein. Und so hat Marx Vorsorge getroffen, das bisherige Konzept schon früh einer kritischen Überprüfung unterzogen und es den aktuell geltenden Regeln angepasst. So ist auch für ihn "social distancing" in jeder Hinsicht das Gebot der Stunde. Konsequent wendet er das auch bei seinen kleinen hölzernen Protagonisten an. Denn in der Regel bildet eine für das Veedel charakteristische Häuserkulisse, die er diesmal bewusst weglässt, die Hintergrundfolie für die Interaktion der typischen Vertreter dieses Stadtteils: Zum einen sind da die Figuren mit biblischem Bezug zur Weihnachtsgeschichte – darunter zunächst Maria, Josef und das Jesuskind, aber auch Elisabeth, Zacharias und Johannes oder der Engel auf dem Feld – diesmal steht er auf der Kanzel – sowie die Sternsinger auf der Empore.

Symbolische und reale Figuren aus dem Umfeld von Lyskirchen

Dann diejenigen, die echt-kölsche Typen sind und eher symbolisch für Menschen stehen, die ums Eck wohnen: zum Beispiel die Marktfrau, der Matrose, der Schutzmann, das Tanzpaar der "Hellige Knäächte un Mägde" oder Crina, das Roma-Mädchen. Und schließlich sind da noch der jüdische Apotheker mit Davidstern aus der Rheingasse, dessen Geschäft "arisiert" wurde, während er vor den antisemitischen Hetzkampagnen des Nazi-Blattes "Westdeutscher Beobachter", das im Filzgraben gedruckt wurde, nach Schweden floh, Pfarrer Gottfried Kirsch, der langjährige Pastor von Lyskirchen, der Leyendecker und die Wäscherin Magret Kohnen; reale Personen, die tatsächlich mal in den Gassen rund um die Pfarrkirche gelebt haben und an die ein liebevolles Andenken bewahrt werden soll.

Das gilt auch für Irma Müller-Hermann, die 90 Jahre alt geworden ist und die die Krippenfiguren in den letzten zwei Jahrzehnten komplett eingekleidet hat. Oder etwa für "Frau Tiefenbach", eine mürrische alte Frau, die in ihrer eigenen Welt lebte und meistens mehrere Kleiderschichten übereinander trug, aber ebenso zum Straßenbild gehörte wie Maria Brecht, eine zierliche Dame, deren Welt die Musik war, die 40 Jahre im Kölner Opernchor gesungen hat und für die St. Maria in Lyskirchen die letzten Jahre bis zu ihrem Tod am Karfreitag im Jahr 2011 ihr Leben war. Und auch Magdalena Färber, die völlig unerwartet mit nur 60 Jahren in der Straßenbahn auf dem Nachhauseweg verstirbt und deren plötzlicher Tod für große Anteilnahme unter den Nachbarn sorgte. Noch relativ neu ist David, der Flüchtlingsjunge aus Eritrea, dessen christliche Familie in seiner Heimat der Religion wegen verfolgt wurde und dessen Eltern qualvoll in einem Container erstickt sind.

Abstand, um Nähe zu zeigen

Sie alle sind feste Bestandteile des Krippenbildes und verkörpern Jahr um Jahr – mitten aus dem Leben heraus – die in der Altstadt ansässigen Bewohner unweit des Rheinufers, die sich zur Anbetung des neugeborenen Königssohnes an der Krippe versammeln. Doch diesmal – im Corona-Jahr – ist nichts so, wie es die "Pfarr- und Fahrgemeinde", als die sich St. Maria in Lyskirchen wegen ihres großen Einzugsgebiets versteht, kennt. Denn es geht um den Schutz vor Infektionsgefahr; größere Besucheraufläufe müssen daher unbedingt vermieden werden. Und so verbleibt in pandemischen Ausnahmezeiten das gewohnte Krippenbild mit der repräsentativen Straßenszene im Depot.

"Die Krippenfiguren selbst gehen auf Abstand zueinander, um uns nahe zu sein", steht erklärend auf einer Informationstafel. Und so ist diesmal jeder Figur ein eigener Platz im Kirchenraum zugeteilt, was ihr gleichzeitig – mehr noch als sonst – größere Aufmerksamkeit sichert. Abstand, um Nähe zu zeigen? Was seit Corona paradox klingt und auch hier in der Kirche immer noch irgendwie widersprüchlich erscheint, leuchtet dennoch ein und gehört außerdem ja längst zum gesellschaftlichen Lernprozess. Aber Social Distancing auch als künstlerisches Prinzip?

Benjamin Marx: Tief bewegt von den Bildern leerer Kirchen

"Es ging damals darum, die Botschaft von Weihnachten neu zu akzentuieren, und auch heute wollen wir die Geschichte in ihrem aktuellen Kontext anschaulich erzählen", begründet Benjamin Marx die ungewohnt großzügig im Raum verteilte Aufstellung der Figuren. Mit "damals" meint das ehemalige Pfarrgemeinderatsmitglied von Lyskirchen das Jahr 1996, als er nach dem Tod von Pfarrer Gottfried Kirsch die Gestaltung dieser populären Krippe zu seiner Sache machte und begann, den Stamm der vorhandenen zwölf Figuren nach und nach zu erweitern und – bis auf den heutigen Tag – um insgesamt 24 weitere "Mitspieler" zu ergänzen. Seiner hartnäckigen, aber auch sorgfältigen Recherche verdankt die Gemeinde heute eine der aussagestärksten und spannendsten Krippendarstellungen in der Region – und wiederentdeckte Biografien, die sonst vermutlich niemals ans Licht gekommen wären.

Es sind die Bilder von leeren Kirchen, die Marx im Frühjahr tief bewegt abspeichert und die daher längst in ihm arbeiten, als andere noch denken, gegen Ende des Jahres sei der Corona-Spuk vorbei. "Außerdem habe ich mich mit der spanischen Grippe auseinandergesetzt", erzählt er, "und da war mir schnell klar, dass uns eine zweite Welle genau in der Weihnachtszeit treffen wird." Daraufhin entwickelt er die Idee, den gesamten Kirchenraum zur Krippe und alle Besucher zu Hirten werden zu lassen, die bei ihrem Krippengang dem Neugeborenen – wie schon vor 2000 Jahren – die Ehre erweisen.

Figuren spiegeln die Vereinzelung wider

"Um Abstand halten zu können, benötigen die Gottesdienstbesucher viel Platz", sagt er. Und dass bei abgezählten 46 Plätzen dann eine räumlich ausladende Krippe ein Luxus wäre, wenn es darum gehe, eher möglichst viel Raum zu gewinnen. "Die Figuren stehen daher für sich oder in kleinen Gruppen überall in der Kirche. Gleichzeitig spiegeln sie die Vereinzelung, die jeder von uns in diesen Zeiten selbst ganz real – mehr oder weniger stark – erlebt, wider. Außerdem machen wir damit die Einsamkeit zum Thema, in der im Frühjahr unzählige Menschen ohne ein tröstendes Wort in unseren Altenheimen gestorben sind."

Benjamin Marx macht aus der Not eine Tugend. Und er betont noch einmal das Wesentliche, auf das es ihm ankommt: "Weihnachten – das ist nicht nur eine nette Geschichte, die sich vor langer Zeit in einem fernen Land ereignet hat. Weihnachten ist ein Fest für jedermann, und Weihnachten passiert jederzeit. Nichts anderes wollen wir mit unserer Milieukrippe in Lyskirchen den Menschen vermitteln."


 

Die heilige Familie thront erhöht auf einer Stele unweit des Altares. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die heilige Familie thront erhöht auf einer Stele unweit des Altares. / © Beatrice Tomasetti ( DR )


 

Die ersten zierlichen Krippenfiguren wurden von Karl-Heinz Kuhle, die späteren von Leif-Erik Voss geschaffen. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die ersten zierlichen Krippenfiguren wurden von Karl-Heinz Kuhle, die späteren von Leif-Erik Voss geschaffen. / © Beatrice Tomasetti ( DR )


 

Jede einzelne Figur verkörpert einen Typus oder ist einmal für die Menschen im Veedel von Bedeutung gewesen. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Jede einzelne Figur verkörpert einen Typus oder ist einmal für die Menschen im Veedel von Bedeutung gewesen. / © Beatrice Tomasetti ( DR )


 

Das Roma-Mädchen Crina - aus jüngerer Zeit - steht symbolisch für die vielen ausgegrenzten Armutsflüchtlinge. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Das Roma-Mädchen Crina - aus jüngerer Zeit - steht symbolisch für die vielen ausgegrenzten Armutsflüchtlinge. / © Beatrice Tomasetti ( DR )


 

Für Benjamin Marx ist in 25 Jahren die Milieukrippe in Lyskirchen zur Herzenssache geworden. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Für Benjamin Marx ist in 25 Jahren die Milieukrippe in Lyskirchen zur Herzenssache geworden. / © Beatrice Tomasetti ( DR )


 

Zu jedem Stadtbild gehören auch die Obdachlosen. In Lyskirchen werden Spenden für sie gesammelt. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zu jedem Stadtbild gehören auch die Obdachlosen. In Lyskirchen werden Spenden für sie gesammelt. / © Beatrice Tomasetti ( DR )


 

Das Kinder-Jeckebääntche und der holländische Fischhändler bilden eine Gruppe. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Das Kinder-Jeckebääntche und der holländische Fischhändler bilden eine Gruppe. / © Beatrice Tomasetti ( DR )


 

Wer genau hinsieht, bemerkt, dass das Kind eine Dornenkrone in der rechten Hand hält.  / © Beatrice Tomasetti (DR)
Wer genau hinsieht, bemerkt, dass das Kind eine Dornenkrone in der rechten Hand hält. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR