Dramatischer Mitgliederschwund bei den Kirchen

"Damit hat keiner gerechnet"

Die hohe Zahl an Kirchenaustritten ist dramatisch, sagt auch die Vizepräsidentin des ZdK. Besonders erschreckend findet Karin Kortmann, dass die höchsten Austrittszahlen urkatholische Bundesländer verzeichnen.

Symbolbild Kirchenaustritt / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Kirchenaustritt / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Mit hohen Zahlen war schon zu rechnen oder hatten Sie andere Zahlen erwartet?

Karin Kortmann (Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken): Wir alle haben diesen Zahlen entgegengebibbert, dass sie so brutal ausfallen, damit haben wir nicht gerechnet. Ich meine, wenn das Ergebnis heißt, Kirche hat für mehr als eine Viertelmillion bisher katholisch gläubige Menschen den Sinn und den Wert für ihre Lebensgestaltung verloren, dann ist das eine Dramatik, die sich da abzeichnet. All diese Auswirkungen kommen oft auch etwas später. Wann tritt jemand bewusst aus und sagt, jetzt reicht es mir?

Der Vertrauensverlust, der durch den sexuellen Missbrauch vor Jahren schon festgestellt worden ist, zieht sich weiter, weil man dieser Kirche immer noch nicht zutraut, dass sie es gut regelt und die Konsequenzen auch erkennbar sind. Jeder, der im Bereich von Großorganisation wie Parteien oder Gewerkschaften tätig ist, weiß: Einmal verlorenes Vertrauen lässt sich nicht einfach wiederherstellen. Da muss schon der große Wurf kommen, damit man sich dieser Organisation wieder gerne zuwendet. Es fehlen klare Perspektiven. Unter diesem Dilemma leidet die katholische Kirche.

DOMRADIO.DE: Der Grund für die hohen Austrittszahlen sei eine Entfremdung mit dem Glaubensleben in den Kirchen, sagt der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Bätzing. Das klingt, als wären diese Zahlen ein Zeichen für einen gesellschaftlichen Wandel. Glauben Sie das auch?

Kortmann: Kirche sagt ganz bewusst: Wir sind ein Teil der Gesellschaft. Wir gestalten Kirche mit. Man muss ein paar Dinge genauer anschauen. Das eine ist: Wir haben nach wie vor eine Ost-, West- und Südkirche. Der Organisationsgrad der Katholiken im Osten liegt bei maximal 9 Prozent. Die höchsten Zustimmungsraten gibt es in den Bistümern Regensburg und Passau mit 66 bis 90 Prozent. Und dazwischen verändert sich vieles. Wenn man die aktuellen Zahlen mal auf die Bundesländer herunterbricht, steht an erster Stelle Bayern, wo 78.309 Menschen ausgetreten sind, gefolgt von NRW mit 67.874 und auf Platz drei Baden-Württemberg mit 44.176 Austritten.

Das heißt, Kirche verliert ihre Stamm-Katholiken in den Bundesländern, die sehr katholisch geprägt sind. Das ist das Alarmzeichen. Wenn in der Reihenfolge München-Freising vorneweg steht, dann Köln, Freiburg, Rottenburg-Stuttgart kommt, sehen wir: Die Erosion geht einmal quer durch das ganze Kirchenvolk. Das ist nicht mehr willig, einfach nur die Hoffnung zu haben, es wird sich mal etwas verändern, sondern es will jetzt Konsequenzen sehen aus dem, was über Jahre die binnenkirchliche Situation war. Es stellen sich Fragen wie: Wie wird Gemeindeleben wieder aktiviert? Warum gibt es XXL-Gemeinden? Warum ist es so schwer, Priester zu erreichen, die für die Seelsorge eine herausgehobene Bedeutung haben? Dieser innerkirchliche Erosionsprozess führt nicht zu  Vertrauen und Zuversicht.

DOMRADIO.DE: Diesen innerkirchlichen Erosionsprozess erlebt nicht nur die katholische Kirche, sondern auch die evangelische Kirche mit ebenso hohen Austrittszahlen. Die Menschen verlassen die katholische Kirche wohl nicht, weil sie den Zölibat oder die Rolle der Frau in der katholischen Kirche kritisieren. Können die Menschen mit dem religiösen Leben in den Kirchen nichts mehr anfangen?

Kortmann: Es beruhigt mich nicht, wenn ich mir die evangelischen Zahlen daneben lege, sondern ich frage mich: Was machen wir besser, damit wir das erreichen, wofür wir eigentlich stehen? Das zeigt auf der einen Seite schon, dass die religiöse Bindung insgesamt abnimmt. Das sehen wir bei der Sakramentspende: Es werden weniger Kinder getauft, es finden weniger kirchliche Trauungen statt, es gibt weniger Erstkommunionkinder. Aber auch die katholischen Bestattungen sind um fast 10 Prozent zurückgegangen. Das zeigt etwas von dieser Verletzlichkeit, und dass auch Ältere und nicht nur junge Menschen fragen, was ihnen die Kirche bietet, welchen Wert und Sinn sie in ihr sehen, was ihnen verloren geht.

Mein Plädoyer heißt, immer präsent sein, sich nicht auf diese XXL-Gemeinden alleine verlassen, die Menschen brauchen schnelle Anlaufwege, die Angebote müssen deutlicher kommuniziert werden, das personelle Angebot muss überprüft werden, ob das für die heutige Zeit noch passend ist. Kirche muss eben auch da, wo Menschen Hilfestellung brauchen, da sein. In der Corona-Zeit hat Seelsorge, so wie wir sie bisher immer wahrgenommen haben, von Mensch zu Mensch da zu sein, Nächstenliebe, Solidarität, Partizipation, all das hat gelitten. Die Zahlen vom letzten Jahr werden in diesem Jahr in einer anderen Form noch einmal fortgeschrieben. Deswegen brauchen wir dringend Veränderungen.

DOMRADIO.DE: Genau um diese Veränderungen kümmert sich auch der Synodale Weg. Da hat sich die katholische Kirche aufgemacht, um Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Nun gibt es aber Kritiker, die sagen, da verschwende man doch irgendwie nur seine Zeit. Man fetzt sich um kirchenpolitische Themen aus der Innenwelt der Kirche. Das interessiert eigentlich die Masse da draußen gar nicht. Diese Diskussion gehe an der Gesellschaft inzwischen total vorbei. Würden Sie das auch so unterschreiben?

Kortmann: Nein, überhaupt nicht. Immerhin gehöre ich dem Präsidium des Synodalen Weges an, weil ich davon überzeugt bin, dass wir den brauchen. Wir brauchen ihn, um zwischen Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens, dem ZdK und seinen Mitgliedsorganisationen und der Bischofskonferenz ein Einvernehmen zu bekommen, welche Reformprozesse anstehen. Wir können das nicht auf eine lange Bank schieben. Der Synodale Weg ist ein innerkirchlicher Prozess. Insofern interessiert das die meisten Gläubigen wahrscheinlich gar nicht.

Aber die Erwartung der Menschen, dass sich was verändern muss, nehmen 250 Delegierte ernst. Wir sind mit guten Ideen und fortschrittlichen Überlegungen zu Gange und werden auch Anfang September bei fünf Regionalkonferenzen deutlich machen, wo wir den Veränderungsdruck sehen, und dass wir innerhalb der deutschen Kirche, aber auch der Weltkirche, nicht warten dürfen. Wer in dieser Kirche wirklich noch eine Zukunft sehen will, der engagiert sich. Das sehen wir auch, wie viele es nach wie vor tun. Aber wer meint, das halten wir alles noch weiter aus, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.


Quelle:
DR