DOMRADIO.DE: Im Moment sprechen sich Politiker eher gegen Sonderrechte für Geimpfte aus. Sie nennen das Ganze eine "Fantasie-Debatte". Warum?
Maria-Sibylla Lotter (Professorin für Philosophie, Ruhr-Universität Bochum): Die Debatte ist eine Fantasie-Debatte und auch etwas beunruhigend aus mehreren Gründen: Einerseits geht sie an der momentanen Realität und dem Wissensstand vorbei. Wir wissen im Moment ja noch gar nicht, ob Geimpfte die Krankheit nicht auch noch übertragen können oder wie viel Prozent von ihnen das vielleicht doch können. Das wissen wir erst in ein paar Monaten. Es gibt also keinen aktuellen Bezug.
Zweitens geht die Debatte von einer Verwechslung aus, die überhaupt nicht harmlos ist. Hier werden nämlich Grundrechte von Bürgern - sich ungehindert zu bewegen, Kulturstätten besuchen zu können - mit Privilegien verwechselt.
Auch die Rechte von Privatwirten, die etwa ein Fitnessstudio betreiben oder ein Restaurant betreiben, selbst für eine spezielle Klientel zu öffnen, werden infrage gestellt. Es wird hier davon geredet als Ziel, als ginge es um besondere Privilegien, die von der Politik verliehen werden können.
Hier wird ein Ausnahmezustand mit dem Normalzustand verwechselt. Die gewöhnlichen Grundrechte, die derzeit aus guten Gründen eingeschränkt sind, werden als Privilegien verstanden.
DOMRADIO.DE: Wir können aber schlecht bis 2023 auf alles verzichten, was Spaß macht, nur weil sich ein großer Teil der Bevölkerung den Impfungen verweigert.
Lotter: Das ist natürlich wirklich eine wichtige Frage, nämlich die nach der besten politischen Strategie, um möglichst bald einen Impfschutz zu erreichen. Das Wichtigste daran hat natürlich mit dieser Debatte gar nichts zu tun. Deshalb halte ich sie auch ein bisschen für eine Ablenkungsdebatte: die möglichst schnelle Bereitstellung von hinreichend viel Impfstoff und eine gute Organisation der Impfzentren.
Das zweite ist aber auch eine öffentliche Politik, die einen Anreiz für diejenigen bietet, die keine irrationale Angst vor Impfungen haben, sondern sich schlichtweg sagen: "Ich bin ja jung. Ja, warum soll ich mich impfen lassen? Ich habe ja keine Angst vor der Krankheit." Hier spreche ich von echten Privilegien, nicht von Grundrechten.
DOMRADIO.DE: Welche Privilegien würden Sie nahelegen?
Lotter: Man könnte ja zum Beispiel sagen: Wer sich impfen lässt, bekommt einen kleinen Abschlag bei der Krankenkasse. Hoch genug, dass das einen gewissen Anreiz darstellt für diejenigen, die keine Ängste vor Nebenwirkungen haben oder sich aus religiösen Überzeugungen grundsätzlich nicht impfen lassen würden.
In Israel wird so eine Politik schon relativ erfolgreich betrieben. Man stellt denjenigen, die sich impfen lassen, bestimmte Sonderkonditionen zur Verfügung. Ich denke, das wäre durchaus eine sinnvolle Politik.
Das wäre eine Politik, die mit echten Privilegien argumentiert und die merkwürdige Solidaritätsdebatte umkehrt. Es ist ja ein Solidaritätsbeitrag, wenn sich ein junger Mensch sich impfen lässt, der überhaupt keine Angst vor Corona hat, weil er von seinem Bekanntenkreis weiß, dass die Erkrankung dort Symptome wie eine leichte Grippe hatte, um etwas gegen die Bedrohung der Gesellschaft zu tun.
Das kann man auch würdigen, indem man sagt: Okay, für diejenigen, die das machen und ihre Energie aufwenden, sollten 50 Euro oder 100 Euro bei der Krankenkasse als Bonus herausspringen.
DOMRADIO.DE: Was würden Sie der Politik in der aktuellen Debatte raten?
Lotter: Erst einmal nicht mit einer solchen Kategorienverwirrung zu arbeiten. Nicht Grundrechte mit Privilegien zu verwechseln und sich zweitens eine pragmatische und machbare Strategie zu überlegen, um die Impfbereitschaft zu steigern.
Da sollte man auch nicht auf die achten, die Verschwörungstheorien pflegen und von denen aus irgendwelchen grundsätzlichen Erwägungen nicht zu erwarten ist, dass sie sich impfen lassen. Ich denke, ein großer Teil der Nicht-Impfbereiten hält es schlichtweg für nicht unbedingt nötig. Da kann man in der Tat einiges mit solchen sinnvollen Angeboten tun.
Das Interview führte Hilde Regeniter.