DOMRADIO.DE: Wie finden Sie denn das Kreuz in der City-Kirche in Mönchengladbach?
Dr. Stefan Kraus (Leiter des Kunstmuseums des Erzbistums Köln Kolumba): Ich habe es im Original nicht gesehen. Ihre Frage kann man ja generell gar nicht so beantworten, sondern man muss im Grunde genommen immer vom Einzelfall ausgehen, ob etwas wirklich einen künstlerischen Anspruch hat oder nicht. Auf Fotografien finde ich es ausgesprochen spannend. Und dass da eine Kontroverse entsteht, ist erstmal ein gutes Zeichen. Denn es zeigt, dass das Kreuz wirklich auch noch als ein diskussionswürdiger Gegenstand und nicht nur als Dekoration ernst genommen wird.
DOMRADIO.DE: Menschen empfinden das Kreuz aber als verstörend. Sie fühlen sich in ihrem Glauben verletzt und haben gefordert, das Kreuz wieder abzuhängen. Was sagen Sie diesen Menschen?
Kraus: Das ist ein konkretes Beispiel dafür, dass man den Wald, der rauscht, nicht hört, aber die Bäume, die umfallen, viel stärker hört. Man sollte sich auch mit den Menschen beschäftigen, die das, was der Pfarrer dort anregt, wahrnehmen - den Diskurs über das Kreuz und die positiven Signale. Diskussionen dieser Art ziehen sich ja im Grunde durch die ganze Moderne. Seit um 1900 ist diese Debatte immer wieder da - immer, wenn die Künstler im Grunde genommen einen tradierten Begriff des Kreuzes in Frage gestellt haben, wenn die Moderne versucht hat, nach anderen Darstellungsformen zu fragen. Das hat immer auch eine heftige Debatte darüber ausgelöst, wie man sich mit dem Kruzifix denn überhaupt beschäftigen soll.
Das Kreuz selbst ist ein anstößiges Zeichen. Ich glaube, das müssen wir uns klarmachen. Das ist das Besondere unserer Religion. Dieses Kreuzzeichen hat eine ganz ambivalente Wirkung, denn es zeigt zunächst einmal einen geschundenen Menschen, der am Kreuz gestorben ist und gleichzeitig für uns Christen ein Hoffnungszeichen ist. Und ich glaube, dass die Künstler zuallererst gespürt haben, dass die Aussagekraft dieses Kreuzes in einer doch sehr festgelegten Form immer wieder auch ein kleines bisschen erschöpft hat. Es braucht manchmal einen künstlerischen Impuls, um sich dieser Anstößigkeit des Zeichens immer wieder bewusst zu werden.
DOMRADIO.DE: Die Diskussion um Blasphemie und Kunst ist schon etwas älter. Wir erinnern uns zum Beispiel an das berühmte "Kröten-Kruzifix" von Martin Kippenberger oder auch die Fotografie "Piss Christ" von Andres Serrano. Aber was darf denn Kunst überhaupt? Und wann ist Kunst blasphemisch?
Kraus: Was darf Kunst? Das ist immer wieder eine ganz beliebte Frage. Zunächst müssen wir einmal ganz klar sagen, Kunst darf alles. Denn die Freiheit - als eine Äußerung von Menschen, mit ihrer Kreativität etwas zu gestalten, für das wir keine Worte finden und das uns im Anfang vielleicht auch verstört, weil wir seine Tragweite noch gar nicht abschätzen können - ist, glaube ich, ein Wesensmerkmal von Kunst. Und diese Freiheit, das hat Heinrich Böll einmal sehr schön in einer seiner Wuppertaler Reden 1943 ausgeführt, kann ihm niemand geben - nein, die Freiheit hat Kunst. Das ist ein Wesensmerkmal von Kunst, mit dem wir leben müssen, das wir aushalten müssen.
Und bei dem wir spätestens dann auch in so einer Situation wie der in Mönchengladbach merken, dass es nicht darum geht, dass man etwas abnickt und sagt, das ist schön. Sondern dass es gerade nach unserem christlichen Verständnis zu diesem Begriff der Schönheit in der Kunst auch gehört, dass die Kunst uns wirklich Verletzlichkeit zeigt und zum Teil auch eine Brutalität zeigt, die wir mit einem einfachen Schönheitsbegriff in einem dekorativen Sinne nicht abtun können.
DOMRADIO.DE: Wenn ich jetzt persönlich in meinen religiösen Gefühlen verletzt bin, dann muss ich das einfach ertragen. Ist das richtig?
Kraus: Das Werk ist ja schon älter und der Künstler längst verstorben. Es wurde nicht konkret für die Situation gemacht. Ich finde, man darf einem Künstler und auch einem leitenden Pfarrer unterstellen, dass Provokation nicht seine allererste Absicht ist. Das ist etwas, was sich im Umgang mit Kunst natürlich immer wieder sehr schnell einstellt, dass man denkt, Künstler wollen provozieren.
Das ist etwas, was sich nicht vermeiden lässt, wenn man der Kunst zugesteht, dass sie Erwartungen nicht erfüllt, sondern dass sie über Erwartungen hinausgeht, dass sie an Grenzen herangeht. Das heißt auch, dass sie Schmerz, dass sie Tod, dass sie Verletzungen, dass sie diese Grenzwertigkeiten unserer Existenz thematisiert. Dann, glaube ich, muss man ihr zugestehen, dass sie uns provozieren kann, weil unsere Kriterien, die wir von einer bestimmten Funktion an dieser Stelle erwartet haben, nicht erfüllt werden.
Das Interview führte Martin Bornemeier.