KNA: Was lässt sich über die derzeitige Situation in Afghanistan sagen?
Anna Dirksmeier (Länderreferentin für Afghanistan beim Hilfswerk Misereor): Wir beurteilen die aktuelle Lage in Afghanistan in erster Linie durch die Augen unserer Partnerorganisationen. Wir nehmen Furcht, Verunsicherung, Frustration und fehlende Zukunftsperspektiven wahr. Die Hoffnung auf einen Waffenstillstand, auf Stabilität und einen substantiellen Friedensvertrag mit Bekenntnis zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, besteht seit dem fluchtartigen Abzug westlicher Truppen so gut wie nicht mehr.
KNA: Warum nicht?
Dirksmeier: Damit wurde ein wichtiges Druckmittel auf die Taliban für die Friedensverhandlungen aus der Hand gegeben. Die Taliban wurden in ihrer Verhandlungsposition gestärkt und die amtierende Regierung von Präsident Aschraf Ghani geschwächt. Die Gefahr eines Bürgerkriegs oder eines Kalifats ohne gleiche Rechte für Frauen und religiöse oder ethnische Minderheiten wächst dramatisch.
KNA: Was können Helfer vor diesem Hintergrund leisten?
Dirksmeier: Die lokalen Partner von Misereor haben sich immer für die Schwachen und Benachteiligten eingesetzt. Sie nehmen wichtige soziale Aufgaben wahr, die der fragile Staat nicht leistet. Dazu zählen berufliche und schulische Bildung, vor allem von Frauen und Mädchen, die gesundheitliche Versorgung in Kabul wie auch in abgelegenen dörflichen Regionen, das Schaffen von Einkommensmöglichkeiten, ländliche Entwicklung und Friedenserziehung.
KNA: Wie steht es um die Fortführung dieses Engagements?
Dirksmeier: Es ist völlig unklar, ob und in welchem Maße diese wichtigen Projekte fortgeführt werden können, wenn die Gewalt weiter eskaliert - wie dies zur Zeit mit einer Zunahme der Angriffe um mehr als ein Drittel der Fall ist - oder die Fundamentalisten unter den gespaltenen Taliban die Macht übernehmen und Bewegungsfreiheit und Bildung für Frauen sowie zivilgesellschaftliches Engagement unterbinden.
KNA: Was folgt daraus?
Dirksmeier: Die Partner befürchten chaotische Zustände und Verbote.
Andererseits hoffen sie, dass auch die Taliban inzwischen dazu gelernt haben und wissen, dass sie ohne gut ausgebildete Frauen die Verwaltungsposten nicht besetzt und das kriegszerstörte Land nicht aufgebaut bekommen. Gerade die erstarkte städtische Mittelschicht wird sich nicht ohne Widerstand in archaische Strukturen zurückversetzen lassen. Allerdings werden Journalistinnen und Journalisten, aber auch Richterinnen und Richter gezielt getötet.
Solche Einschüchterungen hinterlassen Spuren.
KNA: Stehen genug Mittel für die humanitäre Hilfe bereit - oder teilen Sie das Urteil anderer Helfer, wonach es eine Art chronischer Unterfinanzierung gibt?
Dirksmeier: Es gibt eine massive Unterversorgung, insbesondere im ländlichen Bereich. 11,3 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Misereor musste immer wieder mit Nothilfen einspringen, kann aber nicht einmal ansatzweise den sehr hohen Bedarf decken.
Dazu wäre internationale Unterstützung weiterhin in hohem Maße notwendig, wie unter anderen auch von Außenminister Heiko Maas zugesichert, sofern sich die Menschenrechtslage nicht verschlechtert. Viele unserer Partner leisten neben ihren Projektaktivitäten Nothilfen, insbesondere für diejenigen, die aufgrund der Corona-Ausgangsbeschränkungen jegliche Einkünfte verloren hatten.
KNA: Was lässt sich über den Alltag der Menschen in Afghanistan sagen?
Dirksmeier: Fast 90 Prozent der Afghanen leben bereits unterhalb der Armutsgrenze, 55 Prozent sind sehr arm. Der lange und harsche Winter dauert noch an und die Menschen haben ihre Vorräte aufgebraucht.
Jetzt droht eine anhaltende Dürre mit erheblichen Ernteschäden durch "El Nino", die viele kleinbäuerliche Familien zum Abwandern zwingen wird. Schon jetzt ist das Land in vielen Regionen ein einziges Flüchtlingslager. Allein im Jahr 2019 mussten 400.000 Menschen kriegsbedingt fliehen. Im selben Jahr kehrte eine halbe Million Afghaninnen und Afghanen aus dem Iran und Pakistan zurück, weil dortige Arbeitsmöglichkeiten endeten.
KNA: Was erwartet die Rückkehrer und Binnenflüchtlinge?
Dirksmeier: Angesichts der Not in Afghanistan sind Flüchtlinge, ob Binnenvertriebene oder aus dem Ausland Rückgekehrte und Abgeschobene, nicht willkommen, da um die ohnehin viel zu knappen Ressourcen und Verdienstmöglichkeiten konkurriert wird.
Das Land hat ohne externe Hilfe keine Chance. Humanitäre Hilfe und internationale Unterstützung für den Aufbau des Landes werden weiterhin - und mehr denn je - dringend notwendig sein. Wir haben die Verantwortung, die Menschen in ihrer Not nicht allein zu lassen.
Das Interview führte Joachim Heinz.