DOMRADIO.DE: Der Name Ihres Werkes geht auf Maximilian Kolbe zurück. Der polnische Priester hatte sein Leben für einen Mithäftling in Auschwitz gegeben und wurde 1982 heiliggesprochen. Warum hat Ihr Werk vor 50 Jahren ausgerechnet diesen Namen ausgewählt?
Christoph Kulessa (Geschäftsführer Maximilian-Kolbe-Werk): Es ging uns als deutsches Werk darum, Vertrauen in Polen aufzubauen, besonders unter den KZ-Überlebenden. Maximilian Kolbe war durch seine heroische Tat der Nächstenliebe allen Überlebenden bekannt.
Und wenn dann eine Organisation 1973 den Namen Maximilian Kolbe als Namenspatron wählt, sollte das eine Art Brücke der Versöhnung und des Vertrauens sein.
DOMRADIO.DE: Seit 1973 kümmert sich Ihr Werk um Überlebende deutscher Konzentrationslager und Ghettos. Geben Sie uns gleich mal so ein Beispiel, wie sah über die Jahre hinweg die typische Unterstützung für Überlebende aus?
Kulessa: Schon zu Beginn unserer Tätigkeit war und ist das auch heute noch die finanzielle Direkthilfe, die wir Beihilfen nennen. Das war damals eine enorm wichtige Form der direkten Unterstützung. Damals waren die Invaliden-Renten sehr klein.
Sie müssen sich vorstellen, dass viele Überlebende aufgrund der Traumatisierung oder Misshandlungen physischer und psychischer Art früh Invaliden waren, dass sie also nicht in der Lage waren zu arbeiten. Auch die sogenannte Kriegsrente, die es heute gibt, gab es damals noch nicht. Das heißt, wenn jemand damals nicht in der Lage war zu arbeiten, dann war das eine sehr, sehr prekäre Lebenssituation.
DOMRADIO.DE: Die finanzielle Unterstützung war das eine. Und seit Jahrzehnten bringen Sie die Zeitzeugen auch nach Deutschland, damit die jungen Menschen die Schrecken der Nazizeit aus erster Hand erfahren. Wie kam es dazu?
Kulessa: Die Arbeit mit den Zeitzeugen haben wir als eigenes Arbeitsgebiet erst seit Ende der 1990er-Jahre definiert. Aber die Einladung nach Deutschland, die einen wichtigen Markstein unserer Arbeit darstellt, begann 1978, als die erste kleine Gruppe von sechs Frauen zum Katholikentag nach Freiburg kam.
Als der Aufenthalt vorbei war, da hat eine der Damen gesagt: "Ich bin zweimal aus dem KZ befreit und befreit worden, einmal 1945 und einmal jetzt hier in Freiburg." Und da begannen diese regelmäßigen Einladungen, die dann auch dazu geführt haben, dass Vertrauen aufgebaut werden konnte, dass Menschen hierher kamen, sich trauten, nach Deutschland zu kommen, zu Tagen der Erholung und der Begegnung.
Und dann haben die KZ-Überlebenden auch angefangen, im Rahmen dieser Aufenthalte ihre Geschichte zu erzählen. Sie haben in der Gruppe mit den Ehrenamtlichen, die sie betreut haben, oder mit einer Schulklasse von früher zu erzählen begonnen. Da fassten sie Vertrauen und haben angefangen, ihre Geschichte zu erzählen. Und das ist ein langer Prozess gewesen.
Und erst zu unserem 25-jährigen Bestehen 1998 haben wir eine Anthologie herausgegeben: "Fragt uns, wir sind die Letzten" mit Sammlungen von Erinnerungen von Überlebenden und haben dann die Zeitzeugen-Arbeit in unsere Arbeit als drittes Feld aufgenommen. Unsere drei großen Themen heißen Helfen, Begegnen und Erinnern.
DOMRADIO.DE: Nun werden Zeitzeugen immer weniger, wie gehen Sie damit um?
Kulessa: Zum einen beziehen wir so viel wie möglich Überlebende in Zeitzeugengespräche in die Zeitzeugenarbeit ein. Das tun wir seit der Pandemie auch digital. Wir haben Überlebende, die in Warschau, in Danzig oder in Krakau vor dem Laptop oder dem Computer sitzen und einer Schulklasse in Deutschland von ihren Erinnerungen und ihren Erfahrungen berichten. Das funktioniert sehr gut.
Außerdem laden wir natürlich nach wie vor auch Zeitzeugen in Präsenz nach Deutschland ein. Wenn die Zahl weiter abnimmt und sie noch weniger in der Lage sein werden, aus eigener Erfahrung zu berichten, dann kommen wir in eine Situation, wo wir dann überlegen müssen, was wir tun können.
Die Erinnerungsarbeit bleibt weiter wichtig. Es geht also um innovativen Ansätze, um Erinnerungsarbeit in der Zukunft zu führen, wenn keine Zeitzeugen mehr da sein werden.
DOMRADIO.DE: Ein wichtiges Stichwort beim Maximilian Kolbe-Werk ist das Wort Versöhnung. Und Sie setzen sich, wie gesagt, auch seit 50 Jahren für die Versöhnung vor allem zwischen Polen und Deutschland ein. Wenn Sie jetzt auf die Geschichte Ihres Werkes zurückschauen: Was waren so entscheidende Punkte in der Geschichte des Maximilian Kolbe-Werkes bei der Versöhnung?
Kulessa: Versöhnung ist ein Prozess, der nicht abgeschlossen ist, auch die Versöhnung mit Polen ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Aber es gab und gibt prägnante und starke symbolische Momente. Der erste am Anfang war, dass die Menschen, auf die wir zugegangen sind, unsere Hilfe angenommen haben. Es hätte durchaus sein können, dass sie gesagt hätten, interessiert mich nicht, ich will mit euch nichts mehr zu tun haben.
Es gibt kaum eine Familie in Polen, die keine Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus zu beklagen hatte. Und bei den jüdischen Überlebenden war es so, dass oft die ganze Familie bis auf ein oder zwei Mitglieder umgebracht wurden.
Ein wichtiger zweiter Punkt war die Einladung zu uns nach Deutschland zu kommen. Das ist noch mal persönlicher, dass Menschen eine Einladung annehmen in das Land der Täter. Sie könnten nicht unbedingt sicher sein, dass sie herzlich und freundlich aufgenommen werden.
Es gab sicher auch Befürchtungen, wie mit ihnen umgegangen wird oder ob sie es aushalten können, nur noch Deutsch permanent zu hören. Dieser Schritt hin zu den Besuchen in Deutschland war ein Zeichen dafür, dass ein Stück Vertrauen gewachsen war. Der nächste Punkt kam dann Anfang/Mitte der 1980er-Jahre, als Überlebende bereit waren, mit uns zusammenzuarbeiten. Mit der Ausrufung des Kriegsrechts 1981 war die Not in Polen sehr groß.
Das Kolbe-Werk hat sehr viele Hilfsgüter nach Polen gebracht. Und in diesem Zusammenhang hatten wir Überlebende angesprochen und sie gebeten, uns bei der Verteilung zu helfen und ein Netzwerk zu gründen, damit diese Hilfen im ganzen Land verteilt werden konnten.
Und es haben sich damals Menschen gefunden. Aus diesen Anfängen hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein Netzwerk von Vertrauenspersonen, wie wir es nennen, gegründet und gebildet, das bis heute hilft. Das ist auch ein großes Zeichen von Vertrauen gewesen. Und der nächste Schritt war, dass Überlebende bereit waren, uns und anderen ihre Geschichte zu erzählen - auch auf die Gefahr hin, dass sie neu traumatisiert werden, indem sie das erzählen. Wenn sie den Menschen diese Dinge erzählen, wird es wieder Gegenwart für sie.
Und die beiden letzten Sachen, die ich oder die wir auch immer wieder erleben und erlebt haben: Wenn es dann dazu kam, dass Überlebende uns und andere einfach in den Arm genommen haben und gesagt haben: Ihr seid meine Freunde! Damit konnten wir nun gar nicht rechnen. Aber im Laufe der Jahre gab es immer mehr diese Gesten der Versöhnung oder der Freundschaft ergeben.
Es gibt beispielsweise Menschen, die mir ihr Du angeboten haben, obwohl sie 30 oder 40 Jahre älter sind. Das sind insgesamt alles Zeichen, die mir und anderen zeigen, dass da wirklich etwas gewachsen ist.
Das Interview führte Mathias Peter.