DOMRADIO.DE: Seit über zehn Jahren bieten Sie Treffen zum Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit in Auschwitz an. An wen richten die sich?
Dr. Jörg Lüer (Theologe und Politikwissenschaftler sowie stellvertretender Vorsitzender der Maximilian-Kolbe-Stiftung, die Opfern der Nationalsozialisten in Mittel- und Osteuropa hilft): Wir laden zu diesem Treffen Teilnehmende ein, die selber Erfahrung mit Erinnerungs-, Versöhnungs- und Friedensarbeit in unterschiedlichen Kontexten, meistens in Europa, haben.
DOMRADIO.DE: Wie sind denn diese fünf Tage gestaltet, die Sie jetzt vor sich haben?
Lüer: Es kommen ungefähr 30 Teilnehmende aus 14 verschiedenen Ländern zusammen, sei es aus Russland, der Ukraine, dem Baltikum, Polen, Deutschland, den Balkanländern, aber auch Frankreich, Italien und Irland, sodass wir wirklich Ost und West dabei haben.
Dass die Leute hier gemeinsam zusammenkommen, ist erst mal ein Zeichen dafür, was sie zusammenführt. Denn sie haben alle die Entscheidung getroffen: Wir setzen Zeit ein, um gemeinsam die Verbrechen in Auschwitz zu vergegenwärtigen.
Das heißt, wir beginnen erst einmal mit einer sehr ausführlichen Begehung und Reflexion des Ortes. Dabei stellen die Leute erst mal auch sehr viel Gemeinsamkeiten fest. Man sieht, wir sind ja nicht allein, egal, woher wir kommen und wie unterschiedlich wir sind, wir sind in unserem Anliegen vereint.
Wir treffen Überlebende, was sicher immer einer der emotionalen Höhepunkte dieses Workshops ist. Dann setzen wir uns in verschiedenen Stufen mit der Unterschiedlichkeit der Erinnerungen in den jeweiligen Gesellschaften auseinander.
Dabei geht es weniger darum zu klären, wessen Erinnerung jetzt die vermeintlich richtige ist, als vielmehr darum, zu verstehen, warum unsere Erinnerungen unterschiedlich sind.
Darüber lässt sich dann wiederum verstehen, dass sich in der Unterschiedlichkeit das widerspiegelt, was in Auschwitz angerichtet wurde.
DOMRADIO.DE: Sie gucken auch, wie in Frankreich, Polen, Russland über diese schreckliche Geschichte im Nachhinein gedacht wird?
Lüer: Ja, ganz klar. Es gibt mehrere Einheiten, in denen wir diese historischen Erinnerungen vergleichen. Wir können zwar nicht alle Erinnerungskulturen in eigenen Vorträgen vorstellen, aber wir stellen einige Aspekte exemplarisch heraus und kommen dann darüber ins Gespräch. Das wird manchmal auch sehr konfliktiv.
DOMRADIO.DE: Kann es auch passieren, dass es Menschen in diesem Workshop gibt, die sagen, das alles habe so gar nicht stattgefunden?
Lüer: Nein, die Sache ist völlig unstrittig. Die Frage ist vielmehr, wie gehen wir da ran? Ein Beispiel von vor ein paar Jahren waren russische Teilnehmer, die mit der Haltung hierhin kamen, dass sie die Befreier waren und ihnen eigentlich die ganze Ehrerbietung gebühre.
Aber für die Leute aus dem Baltikum und aus Polen fühlte sich das anders an, weil das Eintreten der Roten Armee gleich der Beginn der sowjetischen Besatzung, also eines neuen Gewaltregimes war.
Insofern kommen all diese Verwundungen und Verletzungen hoch und kommen miteinander ins Gespräch.
DOMRADIO.DE: Was macht den Unterschied aus, ob man solch einen Workshop und solche Gespräche irgendwo in einem Tagungshaus führt oder ob man tatsächlich vor Ort in Auschwitz ist?
Lüer: Wenn Sie hier sind, stellen Sie sich körperlich in den Raum und setzen sich dem auch aus. Sie setzen sich auch in einer sinnlichen Weise den anderen noch mal anders aus.
Das ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen einem Fernsehgottesdienstes und einem Hochamt, an dem man physisch teilnimmt. Es ist eine ganz andere sinnliche Erfahrung und Verbindlichkeit in der Auseinandersetzung.
Man kann eben nicht wirklich ausweichen, wenn man hier ist. Das verdichtet die Situation, macht sie ernsthafter und macht sie auch an vielen Stellen tiefer.
DOMRADIO.DE: Und macht auch die Menschen auf eine andere Art und Weise betroffen.
Lüer: Betroffenheit ist eine der Reaktionsformen. Auf jeden Fall sind alle, die hierher kommen, von dem Ort angefasst und berührt. Dem kann man auf jeden Fall nicht ausweichen.
DOMRADIO.DE: Es wird auch Erzbischof Ludwig Schick vor Ort sein. Der war lange Jahre Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz. Inwiefern setzen Sie sich in diesem internationalen Workshop auch mit kirchlicher Schuld auseinander?
Lüer: Wir haben am Vorabend des Todestages von Maximilian Kolbe immer eine Einheit mit wechselnden Vortragenden, dieses Jahr Erzbischof Schick zur Rolle der Kirche in Prozessen von Versöhnung und Erinnerung.
Darin kommt natürlich auch, soweit erforderlich, die Schuldfrage zum Vortrag, die sich aber auch von Land zu Land unterschiedlich gestaltet. Wir haben es mit einer Märtyrerkirche zu tun in Polen im Zweiten Weltkrieg.
Das können wir jetzt bei unserer Kirche in Deutschland nur in eingeschränkter Weise so sagen. Über diese Fragen muss geredet werden, sonst ist unsere ganze Rede nicht glaubwürdig.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.