Nach einer Woche sind es längst nicht mehr die coronabedingten Begleiterscheinungen, die das Filmfestival in Venedig prägen, sondern endlich die Filme selbst. Der Wettbewerb zeichnet sich dabei trotz Abwesenheit der sonst übermächtigen US-Amerikaner durch viele starke und sehenswerte Filme aus. Vielleicht ist der Abstand zwischen Wettbewerb und Nebensektionen in diesem Jahr sogar kleiner als sonst. Was viele Filmemacher dabei eint, ist die Bereitschaft, neues Terrain zu erkunden, die Formen des Mediums zu mischen oder deren Grenzen zu sprengen.
"Das Neue Evangelium"
Ein gutes Beispiel dafür ist "Das Neue Evangelium" von Milo Rau. Der zuletzt sehr präsente Schweizer Theater- und Filmregisseur erzählt die Jesus-Geschichte neu, aber in Anlehnung an zwei Extremformen des Kinos, in denen diese "größte Geschichte aller Zeiten" schon verfilmt wurde: an die einschlägigen Werke von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson.
Raus Film steht Pasolini näher, weil er größtenteils mit Laien arbeitet, mit Menschen aus Afrika, die in Süditalien in Lagern leben, teilweise illegal, unter ziemlich prekären Bedingungen. Zugleich ist dies aber auch kein Jesus-Film im engeren Sinn, sondern eher dessen Übermalung. Denn der reale Protest der afrikanischen Migranten gegen menschenunwürdige Arbeits- und Lebensverhältnisse, ihr Kampf um Anerkennung und Aufmerksamkeit, sind in den Film integriert, wobei aber im Unklaren gelassen wird, inwieweit die Dreharbeiten erst zum Anlass und zur willkommenen Bühne für diese Proteste wurden.
Der Bezug zur antiautoritären Rebellion des biblischen Jesus liegt hier aber allemal auf der Hand. Verstärkt wird er durch eine Erzählerstimme, die einige präzis gewählte Stellen des Neuen Testaments zitiert, durch die Jesus zusätzlich in seiner Rolle als Revolutionär und Parteigänger aller Schwachen und Ausgestoßenen hervorgehoben wird.
Auch die Drehbedingungen und das Machen des Films - vom Casting bis zur Location-Wahl - sind integriert. "Das Neue Evangelium" ist also Spielfilm und Filmessay und sein eigenes "Making of" in einem. Diese Mischung überzeugt auch in ihrer Aktualisierung der christlichen Gesellschaftskritik. Mit seiner provokativen Stärke und offenen Parteinahme für die Schwächsten erinnert das an die Werke von Christoph Schlingensief.
"Sportin Life"
Auch zwei Italo-Amerikaner, der 69-jährige Abel Ferrara, und die mehr als eine Generation jüngere Gia Coppola, Enkelin von Francis Ford Coppola, mischen in ihren Filmen so virtuos wie überzeugend widersprüchliche Elemente. "Sportin Life" von Abel Ferrara ist nicht einfach zu charakterisieren: Ein essayistischer Dokumentarfilm, aber keiner über Ferraras Leben und Werk. Gespräche mit Willem Dafoe, dem Hauptdarsteller in Ferraras jüngsten Filmen, sind zu sehen, die Premiere seines Spielfilms "Siberia" auf der "Berlinale" 2020, ein paar Ausschnitte aus seinen Filmen wie etwa "Pasolini", in denen es ganz explizit um das Filmemachen geht.
Aber auch Bilder aus New York und aus Rom, wo Ferrara derzeit lebt, auf dem Höhepunkt des Pandemie-Ausnahmezustands, gemischt mit Nachrichtenbildern. Im Spiegel einer zeitgenössischen, hart ätzenden Kritik an den USA ist "Sportin" Life" ein Film, in dem Ferrara über sich selbst, über seine Kunst und über sein Leben reflektiert und ein intensives Bild von diesem Regisseur und seinem Blick auf die Welt und seiner Haltung vermittelt.
"Mainstream"
"Mainstream" heißt Gia Coppolas zweiter Film nach "Palo Alto" aus dem Jahr 2013. Schon "Palo Alto" war erstaunlich gut, und "Mainstream" knüpft daran an. Seine Atmosphäre ist angenehm schwerelos und altmodisch. Die Handlung kreist um ein junges einsames Mädchen namens Frankie, das in einer spießigen Bar arbeitet und trotz vieler Ideen nicht so recht etwas mit sich anzufangen weiß.
Dann lernt sie Link kennen, einen hochbegabten Außenseiter. Beide ergänzen sich und haben mit einem gemeinsamen Social-Media-Projekt schnell Erfolg - ehe Frankie sich auf die wahren Werte besinnt. Neben der bittersüßen Melancholie und dem präzise eingefangenen Lebensgefühl einer Jugend, der es an nichts mangelt außer einem Sinn im Leben, ist die zweite Säule des Films eine überraschend explizite Medienkritik. Sehr direkt sagt der Film: "Schmeißt eure Handys weg, löscht die Social-Media-Accounts. Die digitalen Medien machen euch zu Zombies."
Neben solchen Tönen und guten Witzen ist auch die Hauptdarstellerin Maya Hawke eine Entdeckung - und auch wieder nicht: Hawke ist die Tochter von Uma Thurman und Ethan Hawke. "Mainstream" ist ein formal sehr einfallsreicher, ungewöhnlicher, mit digitalen Elementen virtuos spielender Film, einfach und direkt, der hervorragend gespielt ist und vor allem in seinem Lebensgefühl besticht. Die Zukunft des Kinos "nach Corona" könnte in einer solchen Rückbesinnung auf die Substanz des Filmerzählens liegen, und nicht in immer neuen - und teuren - technischen Aufrüstungen.
"Notturno"
Gianfranco Rosis neuer Film "Notturno" nimmt viel stärker als seine früheren Werke eine geopolitische Gesamtsituation in den Blick. Rosi schlägt Schneisen in den Dschungel dessen, was man für gewöhnlich die "Nahost-Krise" nennt. Die Bilder zeigen einen Jäger im Delta von Euphrat und Tigris; im Hintergrund machen die riesigen Gasfackeln der sprudelnden Ölquellen die Nacht zum Tag. Man sieht etwa Peschmerga-Kämpferinnen in Kurdistan oder traumatisierte Kinder, die sich in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien die unvorstellbaren Grausamkeiten der ISIS-Gotteskrieger von der Seele reden. Das Ergebnis überzeugt als präzise beobachtete Momentaufnahme, die zum Weiterdenken und Vertiefen anregt; ein analytisches Vermögen geht "Notturno" allerdings völlig ab.
Pathos ist Regisseurin Mona Fastvold nicht fremd. Das belegt schon der Titel ihres neuen Films "The World tocome". Er spielt im Norden der USA im Jahr 1856. Die Natur ist groß, der Mensch klein und die Arbeit schwer in dieser Welt. Der Film entfaltet einen faszinierenden Sog als Film der leisen Stimmungen und Zwischentöne, wunderschön fotografiert auf 35mm-Film, mit viel Sinn für Sinnlichkeit, etwa in den grandiosen Szenen eines Schneesturms und des Kampfs gegen die Elemente.