"Die Kunstform, die wir lieben, steckt in einer Krise", verkündeten die Veranstalter des Filmfestivals von Venedig Anfang Juli in einer gemeinsamen Erklärung mit den Festivals von Toronto, New York und Telluride. Zugleich bekundeten sie den Willen zur Zusammenarbeit: Solidarität statt Konkurrenz ist angesagt, damit zumindest die Festivals im Herbst trotz anhaltender Corona-Beschränkungen und deren gravierender Folgen für die ganze Filmindustrie über die Bühne gehen können.
Venedig wird nun am Mittwoch als erstes großes Festival wieder den roten Teppich ausrollen. Mit Abstand, Maskenpflicht und Temperaturmessungen - und doch ist die Vorfreude groß, betont Festivalleiter Alberto Barbera. Ohne die Opfer der Pandemie zu vergessen, sei die 77. "Mostra" eine "Botschaft des Optimismus für die gesamte Welt des Kinos, die so schwer unter der Krise leidet".
Krise hat Spuren hinterlassen
Die Krise hat Spuren hinterlassen. Auch wenn die Zahl der Wettbewerbsfilme nicht allzu sehr eingeschränkt wurde und abgesehen vom Virtual-Reality-Wettbewerb, der nur online stattfindet, alle übrigen Sektionen am Lido ebenfalls an den Start gehen können, hat sich die Krise deutlich ins Programm eingeschrieben: Star-Kino aus Hollywood, sonst immer ein Standbein des Festivals, macht sich diesmal rar.
Doch auch so verspricht das Programm viele interessante Titel. Etwa ein neues Projekt mit Frances McDormand: "Nomadland" von Regisseurin Chloe Zhao ist eine Art Road-Movie-Porträt einer desolaten USA, zentriert um eine Frau, die ihre wirtschaftlich heruntergekommene Heimatstadt in Nevada verlässt, um mit ihrem Van als moderne Nomadin durchs Land zu ziehen.
Der Film, den McDormand auch produziert hat, ist eines der Beispiele für die Kooperation Venedigs mit den anderen Herbst-Festivals:
Anstatt um Weltpremieren zu konkurrieren, präsentieren die "Mostra" und Toronto den Film gemeinsam zur gleichen Zeit, bevor er dann später auch in Telluride und New York zu sehen ist.
Zhao ist nicht die einzige Frau im Wettbewerb: Die sonst regelmäßig beklagte Ungleichheit in der "Löwen"-Konkurrenz fällt diesmal weniger gravierend aus. Von den 18 Filmen im Wettbewerb stammen acht von Regisseurinnen. Gespannt darf man auf eine neue Arbeit der in den USA lebenden Norwegerin Mona Fastvold sein, die in Venedig in den vergangenen Jahren durch ihre exzellenten Drehbuch-Kollaborationen mit Brady Corbet ("Childhood of a Leader", "Vox Lux") präsent war.
Mit "The World to Come", der Verfilmung einer gleichnamigen Erzählung von Jim Shephard (der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat), präsentiert sie eine Liebesgeschichte rund um zwei Farmer-Frauen im Wilden Westen des ausgehenden 19. Jahrhunderts; der Film ist prominent besetzt mit Katherine Waterston, Vanessa Kirby, Casey Affleck und Christopher Abbott.
Zu den Regisseurinnen im Wettbewerb gehört auch Julia von Heinz. Sie präsentiert "Und morgen die ganze Welt", ein deutsches Politdrama rund um die Radikalisierung der politischen Lager. Eine idealistische Jura-Studentin (Mala Emde) will sich dem Rechtsruck im Land entgegenstemmen, schließt sich linken Kreisen an und schließt irgendwann auch Waffen im Kampf für ihre Überzeugungen nicht mehr aus. Der Film startet am 29. Oktober in den deutschen Kinos.
Neues gibt es im Wettbewerb außerdem von der Italienerin Emma Dante, die zuletzt mit der gelungenen Farce "Via Castellana Bandiera" vertreten war und nun mit der Adaption ihres Theaterstücks "Le sorelle Macaluso" am Lido sein wird, rund um sieben Schwestern, die anlässlich einer Beerdigung zusammenkommen.
Auch Malgorzata Szumowska ist mit einem neuen Film im Wettbewerb, den sie gemeinsam mit Michal Englert inszeniert hat: "Never Gonna Snow Again" ist eine Gesellschaftssatire um einen Masseur, der die reichen, aber deprimierten Bewohner einer Gated Community in Warschau durcheinanderbringt. Der Film ist als deutsche Co-Produktion entstanden.
Namhafte Regisseure im Rennen um "Goldenen Löwen"
Neben diesen und anderen Filmemacherinnen sind auch viele namhafte Regisseure mit im Rennen um den "Goldenen Löwen": Stammgast Amos Gitai zeigt "Laila in Haifa" rund um eine Diskothek in der gleichnamigen Stadt, in der Israelis und Palästinenser gleichermaßen verkehren.
Kornel Mundruczo präsentiert mit "Pieces of a Woman" nach "Jupiter"s Moon" eine weitere internationale Arbeit, in der Vanessa Kirby, Shia LaBeouf und Ellen Burstyn mitwirken, und porträtiert eine Frau, die um ein verlorenes Kind trauert.
Der Dokumentarist Gianfranco Rosi, hochdekoriert mit dem "Goldenen Löwen" 2013 für "Das andere Rom" und mit dem "Goldenen Bären" 2016 für "Seefeuer", präsentiert "Notturno" über die verheerenden Folgen des Bürgerkriegs in Syrien und die politischen Schieflagen in den benachbarten Ländern des Mittleren Ostens.
Außerdem darf man auf neue Filme des Russen Andrej Kontschalowski, des Japaners Kiyoshi Kurosawa und des Iraners Majid Majidi gespannt sein. Eröffnet wird die "Mostra" erstmals seit rund zehn Jahren wieder von einem italienischen Film: "Lacci" von Daniele Luchetti, prominent besetzt mit Alba Rohrwacher, läuft außer Konkurrenz und ist die "Anatomie einer Ehe in der Krise".
Eine weitere deutsche Co-Produktion gibt es im Rahmen der "Giornate degli autori" zu sehen: "Das neue Evangelium" von Milo Rau, ein modernes Passionsspiel rund um die Überlegung, was Jesus wohl in der Gegenwart tun würde, wobei ihn der Film als Aktivisten darstellt, der sich gegen soziale Ungerechtigkeit und die Ausbeutung von Geflüchteten auflehnt.
Für ihr Lebenswerk werden zwei überragende Damen des Kinos geehrt: Schauspielerin Tilda Swinton und die chinesische Regisseurin Ann Hui, deren aktueller Film "Di yi lu xiang" außer Konkurrenz läuft.
Über die Vergabe der "Löwen" entscheidet in diesem Jahr eine von Cate Blanchett angeführte Jury. In ihr sitzt neben der britischen Regisseurin Joanna Hogg, Schauspieler Matt Dillon und der französischen Schauspielerin Ludivine Sagnier auch ein namhafter deutscher Filmemacher: Christian Petzold, dessen Film "Undine" jüngst in den deutschen Kino gestartet ist und der übrigens im Frühjahr an Covid-19 erkrankt war.