Corona hat das Thema Tod wieder mehr ins Bewusstsein gerückt

Das Recht auf Leben und seine Grenzen

​Mit der Conona-Pandemie scheint das Bewusstsein um die Endlichkeit des Lebens neu in den Blick zu rücken. Zugleich wird alles dafür getan, Leben zu retten - vielleicht zu viel?

Autor/in:
Angelika Prauß
Symbolbild Trauer / © Antonova Ganna (shutterstock)

Das Leben ist endlich - eine Tatsache, die Menschen meist verdrängen. Stirbt nicht gerade ein nahestehender Mensch, tangiert die meisten das Thema Sterben und Tod in ihrem Alltag eher wenig. Die
Corona-Pandemie mit ihren täglich aktualisierten Todeszahlen ruft die Möglichkeit des eigenen Sterbens wieder mehr ins Bewusstsein.

Zugleich schwingen ethische und psychologische Fragen mit: Wieviel darf und muss getan werden, um ein Leben zu retten? Wieviel kann und muss der Einzelne tun, um sich und andere zu schützen? Und: Warum fällt es Menschen so schwer, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass ihr Leben begrenzt ist und früher oder später einmal enden wird - sei es durch ein Altersleiden, einen Unfall oder eine Krankheit wie Corona?

Diskussion um Todesfälle

Derzeit wird alles getan, um Todesfälle zu vermeiden. Zu Recht? Ende April sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im "Tagesspiegel": "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz des Lebens zurückzutreten, dann muss ich sagen, das ist in dieser Absolutheit nicht richtig." Der einzige absolute Wert im Grundgesetz sei die Würde des Menschen.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) verschärfte den Ton, als er anmerkte, dass unter den Corona-Opfern viele Menschen über 80 seien - "und wir wissen, über 80 sterben die meisten irgendwann". Dafür hagelte es Kritik. Aber selbst der Freiburger Theologe Eberhard Schockenhoff gab zu bedenken, dass es keinen unbegrenzten Anspruch auf medizinische Unterstützung gebe. "Dieser Anspruch muss vielmehr gegen andere, berechtigte Interessen abgewogen werden."

Leben über allem anderen

Das Recht auf Leben wurde in diesem Frühjahr über alles gestellt; zur akuten Corona-Bekämpfung wurden deshalb massive Einschränkungen verordnet und dabei auch gravierende Freiheitsrechte beschnitten. So durften Altenheimbewohner über viele Wochen keine Besuche von Angehörigen erhalten. Pflegende Angehörige konnten sich immerhin weiterhin bemühen, Senioren im vertrauten Umfeld ein gutes Leben zu ermöglichen - auch mit dem Risiko einer möglichen todbringenden Corona-Infektion. "Lieber stirbt mein Papa an Covid, als dass er gar keinen Besuch mehr bekommt und einsam ist", sagt abwägend eine Medizinerin über ihren 92-jährigen Vater.

Viele Menschen hätten den Gedanken an den eigenen Tod ganz weit weggedrängt, beobachtet die evangelische Theologin Margot Käßmann. Durch das Coronavirus funktioniere das aber nicht mehr, sagte sie in einem Deutschlandfunk-Interview. "Und das irritiert, schockiert und erschüttert viele."

Umgang mit der Vergänglichkeit

Warum aber wehren wir uns so gegen den Tod? Aus der Sicht von Buchautor Günter Loewit liegt das auch an den hohen Erwartungen der Menschen an ein zunehmend ausuferndes Gesundheitssystem mit fast schon religiösen Heilsversprechen. Das Coronavirus sei auf eine Gesellschaft getroffen, "die im Glauben lebt, dass die Medizin alles kann und der Tod nicht mehr das natürliche Ende des Lebens, sondern das Versagen der Medizin darstellt", schreibt der österreichische Arzt. Weder Patienten noch Mediziner wollten akzeptieren, dass - allen medizinischen Entwicklungen zum Trotz - nun einmal die "Mortalität des Menschen bei 100 Prozent" liege.

Loewit kritisiert die Polemik, die in Zeiten von Corona in der öffentlichen Debatte mitschwinge. Dass überwiegend alte und multimorbide Patienten an Corona sterben, dürfe "weder gedacht noch laut erwähnt werden", sofort sei die Rede von Zynismus und Eugenik. Die Pandemie trifft aus Loewits Sicht auf eine Gesellschaft, "die das Sterben als Endpunkt des Lebens aus den Augen verloren hat".
Politiker würden nicht müde, "jede Maßnahme, die einzelne Leben vorübergehend verlängern kann, als unabdingbar darzustellen". Stattdessen wirbt der Mediziner dafür, "das Lebensende als essenziellen Bestandteil der individuellen Lebensgeschichte anzuerkennen".

Tod als Übergang eine andere Welt

Der Philosoph Andreas Weber geht in seinem Essay "Indigenialität" einen Schritt weiter. Er beschreibt darin die umfassende Weltsicht und Vorstellung vom Leben, die viele indigene Völker haben: Diese bewegten sich in einer "Welt der Nicht-Trennung" und fühlten sich mit dem Leben in all seien Formen verbunden. Sie erlebten sich als "Teil eines Lebensstroms", der alle Formen des Lebens miteinander verbinde. Der Tod sei für sie ein "Übergang zwischen anderen Verwandlungen in einer Welt voller Sein".

Wer darauf vertrauen kann, dass sein Leben auch jenseits der Todesgrenze in einer anderen Form weitergeht - ob als Animist oder Christ -, mag seinem Lebensende vielleicht gelassener entgegensehen.
Fehlt diese spirituelle Zuversicht, fällt es schwer, den Gedanken an die eigene Sterblichkeit zuzulassen. In Corona-Zeiten haben bislang Medizin, Politik und Medien diese Leerstelle gefüllt.


Quelle:
KNA