DOMRADIO.DE: Was wissen Sie über das jüngste Unglück im Mittelmeer? Es heißt, dass Libyen mitschuldig sei, dass da so viele Menschen ertrunken sind.
Matthias Leineweber (Pfarrer von Sant'Egidio): Ich glaube, es ist ein bisschen komplexer. Wie genau das Unglück passiert ist, wissen wir nicht. Wir wissen von ungefähr 130 Personen. Es gibt die Nachricht, dass die Schlauchboote zwei Tage lang um Hilfe gesucht haben und keine Hilfe gekommen ist.
Als die Rettungsschiffe dann ankamen und die Wracks fanden, war das schon viel zu spät. Ich glaube, das ist auch das Dramatische, dass die Hilferufe nicht aufgenommen wurden. Egal, wer das jetzt gehört hat, es ist eigentlich, wie Papst Franziskus sagt, eine Schande.
DOMRADIO.DE: Die Zustände in den Flüchtlingslagern in Libyen sind untragbar. Unter unmenschlichen Bedingungen sind die Flüchtlinge dort eingesperrt. Muss nicht auch Deutschland seine Zusammenarbeit mit Libyen überdenken?
Leineweber: Auf alle Fälle. Die Gemeinschaft Sant'Egidio fordert das schon seit einigen Jahren und hat auch Alternativen aufgezeigt. Unser Projekt der humanitären Korridore ist ein Projekt der Humanität, aber vor allem auch ein Projekt der Legalität, für die legale Einreise. Das soll vermeiden, dass es überhaupt zu solchen Zuständen kommt, wie in diesen Flüchtlingslagern, wo die Flüchtlinge sich in die Hände von Schleppern begeben, die sie dann in solche Lager versetzen oder auf Boote schicken, wie wir es jetzt erlebt haben.
DOMRADIO.DE: Wie genau funktionieren diese Flüchtlingskorridore?
Leineweber: Es sind Abkommen mit bestimmten Ländern, die viele Flüchtlinge aufgenommen haben. Mittlerweile sind es vor allem Libyen und Äthiopien. Dort sind Flüchtlinge aus verschiedenen Nachbarländern. Mit einigen europäischen Ländern gibt es Abkommen, dass Flüchtlinge auf legalem Weg einreisen dürfen. In Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft werden sie aufgenommen und bei der Integration begleitet. Für die Staaten kommen auch keine Kosten hinzu. Die Zivilgesellschaft, Gruppen und Verbände garantieren die Aufnahme für eine bestimmte Zeit und die Integration.
DOMRADIO.DE: Ganz aktuell laden Sie in dieser Woche auch zu Gebetswachen für die Opfer des Bootsunglücks vor der libyschen Küste ein. Was wird denn da genau in dieser Woche stattfinden?
Leineweber: Ja, wir haben gesagt, dass wir das einfach nicht dulden können und in der Gleichgültigkeit untergehen lassen dürfen. Deswegen rufen wir in vielen Städten auf, um auch auf dieses Problem aufmerksam zu machen und natürlich auch das Erste zu tun, was wir als Christen tun können: Uns im Gebet an den Herrn richten und auch für die Opfer beten, für ihre Familienangehörige, die ihre lieben Angehörigen, oft Kinder verloren haben.
DOMRADIO.DE: Was muss denn jetzt noch dringend passieren, damit das Sterben im Mittelmeer aufhört?
Leineweber: Es ist dringend eine europäische Lösung erforderlich, wie wir es auch schon seit mehreren Jahren sagen, nicht nur Sant'Egidio, sondern viele Hilfsorganisationen. Der Flüchtlingsdruck ist sehr, sehr groß und wird nicht aufhören. Wir können dieses Thema nicht bewältigen, indem wir uns nur abschotten.
Das wird nur mehr Unmenschlichkeit verursachen, die wir jetzt gerade erlebt haben. Auf der anderen Seite ist es doch auch für uns europäische Länder von Interesse, wenn wir eine kontrollierte Einreise haben. Es ist sehr dringend, dass wir dieses Problem, das jetzt durch die Corona-Pandemie in den Hintergrund geraten ist, wieder auf die Tagesordnung setzen. Und dieses Unglück im Mittelmeer erinnert uns daran.
Das Interview führte Heike Sicconi.