DOMRADIO.DE: Die "Das Boot ist voll"-Rhetorik ist weiß Gott nicht neu, erlebt aber gerade eine Renaissance. Steht Deutschland in Ihren Augen tatsächlich an der Grenze seiner Aufnahmekapazität?
Erzbischof Stefan Heße (Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen und Vorsitzender der Migrationskommission bei der Deutschen Bischofskonferenz. Erzbistum Hamburg): Ich nehme wahr, dass manche Kommunen an ihrer Grenze angekommen sind.
Aber ich nehme auch andere wahr, die sich der Herausforderung stellen und sagen "Wir kriegen das hin".
Deswegen, glaube ich, ist es falsch und sogar politisch gefährlich, jetzt von einer Migrationskrise zu sprechen.
Im Gegenteil, ich verweise gerne auf das, was wir in Deutschland alles erreicht haben. Da blicke ich zunächst einmal auf die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge, auf eine Million Menschen, die in unserem Land gut Aufnahme gefunden haben. Und ich bin dankbar für die Solidarität und Hilfsbereitschaft in unserer gesamten Gesellschaft, die sich an diesem Punkt zeigt.
Ich könnte auch verweisen auf das, was in den Jahren 2015/2016 mit vielen ehrenamtlichen Menschen in Deutschland geleistet worden ist.
Deswegen trifft diese Rhetorik die Situation nicht; ich glaube, sie neigt dazu, Angst zu schüren und die ganze Diskussion um Asyl und Migration in eine falsche Richtung zu lenken. Ich möchte sie nicht bedienen.
DOMRADIO.DE: Bundesentwicklungsministerin Schulze hat vor kurzem gesagt, dass ihr in der aktuellen Flüchtlingsdebatte das Mitgefühl fehlt. Geht Ihnen das auch so?
Heße: Mitgefühl stellt sich immer in konkreter Begegnung mit Menschen ein. Mitgefühl ist keine abstrakte Angelegenheit, sondern eine sehr konkrete. Deswegen liegt mir am Herzen, in meiner Arbeit als Flüchtlingsbischof immer wieder mit geflüchteten Menschen selbst in Kontakt zu kommen.
Ich war Anfang September in Griechenland und der Türkei und habe zum Beispiel auf der Insel Lesbos ein Flüchtlingslager besucht. Da bin ich auch mit einzelnen Menschen ins Gespräch gekommen, mit Frauen, mit Kindern, mit Männern.
Und ich habe von deren Erfahrungen gehört. Ich habe von den Traumata gehört, die sie haben, und auch von der Dankbarkeit, jetzt zumindest an einem sicheren Ort zu leben.
Ich kann nur empfehlen, nicht abstrakt über die Dinge reden. Es geht nicht um ein Sachthema, sondern es geht immer um ganz konkrete Menschen, die unser Mitgefühl verdienen. Sie verdienen auch uns unsere Unterstützung und unseren Schutz.
Und natürlich gelten für sie auch die universalen Menschenrechte. Deswegen ist klar, wo wir stehen und wo wir uns einsetzen, nämlich auf der humanitären Seite des Flüchtlingsschutzes.
DOMRADIO.DE: Tatsächlich vermittelt die Berichterstattung in Deutschland oft den Eindruck, dass momentan Menschenmassen nach Deutschland strömen. Droht da in Ihren Augen der Blick für Einzelschicksale verloren zu gehen?
Heße: Ich würde nicht sagen, dass Massen nach Deutschland strömen. Das entspricht meines Erachtens nicht der Realität und das wird auch den Einzelnen nicht gerecht. Die Einzelnen brauchen unsere Unterstützung. Deswegen ist es zum Beispiel wertvoll, dass sich jüngst Bund und Länder endlich auf die Fragen der Finanzierung geeinigt haben.
Ich glaube, wir müssen immer diese einzelnen Menschen vor Augen haben. Sie kommen zu uns, nicht weil sie sich irgendwie auf einen Spaziergang machen wollen oder weil es so schön wäre, sondern sie fliehen vor Gewalt und Elend. Um es ganz deutlich zu sagen: Sie kommen nicht zu uns, um sich die Zähne machen zu lassen.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie auf eine Äußerung von CDU-Mann Friedrich Merz angespielt … Überhaupt, so der Eindruck, diktieren gerade Populisten den Tonfall in der Flüchtlingsdebatte. Wie gefährlich finden Sie das?
Heße: Ich glaube, dass man sich leicht vor solchen Parolen hertreiben lässt. Deswegen würde ich zu Nüchternheit mahnen und zur konkreten Begegnung mit geflüchteten Menschen aufrufen. Dann gewinnt die Debatte ein ganz anderes Gesicht.
Und ich würde unsere Regierung aufrufen, dass sie die guten Anfänge, die sie damals im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, nun auch in die Tat umsetzt. Da hat sie zum Beispiel ganz am Anfang auch die Aufhebung von Hürden beim Familiennachzug angekündigt.
Das ist jetzt alles auf Eis gelegt, obwohl jeder weiß, dass Familiennachzug für geflüchtete Menschen etwas ganz Wesentliches ist. Wenn sie jemanden kennen aus ihrer Familie und sich gemeinsam auf der Flucht befinden, dann geht es ganz anders, als wenn sie mutterseelenallein sind. Familiennachzug wäre ein stabilisierender Faktor.
Stattdessen setzt man jetzt auf Restriktionen. Und wenn der Kanzler sagt: "Wir müssen stärker abschieben", glaube ich nicht, dass mehr Abschiebungen das Problem lösen. Da geht es wahrscheinlich nur um eine ganz kleine Zahl, das hilft uns hier gar nicht weiter.
Wenn der Kanzler daran gemessen wird, dann wird er am Ende das Nachsehen haben. Deswegen plädiere ich dafür, sich bitte nicht treiben zu lassen von diesen platten Parolen. Damit kommen wir in Deutschland nicht weiter.
DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche schlägt sich aktuell mit vielen internen Problemen herum. Inwiefern hat sie da überhaupt Kraft und Mittel ihrer ureigensten Aufgabe nachzukommen und Anwältin der Armen, Schwachen und Schutzsuchenden zu sein, also auch gerade der Geflüchteten?
Heße: Ich bin dankbar, dass gerade bei der aktuellen Kirchenmitglieder-Untersuchung viele Befragten deutlich gesagt haben, dass die Kirche sich für Flüchtlinge engagieren soll. Und ich bin dankbar, dass die Kirche das tut.
Wir haben in unserem Land fast 40.000 Ehrenamtliche und über 5.000 Hauptamtliche, die sich im Bereich Flucht und Migration engagieren. Das ist eine hohe Zahl, und es sind erhebliche finanzielle Mittel, die hier eingesetzt werden. Deswegen sollten wir dranbleiben an diesem hohen Engagement.
Ich glaube, an dieser Stelle wird die Kirche als sehr verlässlich, glaubwürdig und relevant wahrgenommen. Überdies hilft das, von den eigenen Problemen den Blick auf die Anderen zu richten und die eigenen Probleme auch in gewisser Weise zu relativieren.
Ich habe vor 14 Tagen in Witten eine Gemeinde besucht, die beim Aufnahmeprogramm Neustart im Team engagiert ist. Diese Menschen haben auf mich einen sehr ausgeglichenen, engagierten und wirklich frohen Eindruck gemacht.
Wir sind ja nicht Christen für uns selbst, sondern Christen haben immer eine Mission für andere und erst recht für die, die es am dringendsten nötig haben. Dazu gehören die Menschen auf der Flucht.
Das Interview führte Hilde Regeniter.