Ein einziger Chorsänger, eröffnet Jahr für Jahr solo den Heiligabend-Gottesdienst am King’s College in Cambridge. Das "Festival of nine lessons and carols" ist der wohl bekannteste Weihnachtsgottesdienst der Welt. Er sing die erste Strophe des alten englischen Liedes "Once in Royal Davids City". Damit der Sänger, in der Regel zwischen 10 und 12 Jahren alt, nicht zu aufgeregt ist, erfährt er von seinem Einsatz erst Sekunden vor dem Rotlicht der BBC.
Moment des "Friedens auf Erden"
Der Komponist Bob Chilcott durfte das Solo selbst einmal singen. Für ihn bis heute magisch, wie er einmal in der BBC mit einem Augenzwinkern erzählt hat. "Man spürt in diesem Moment, wenn das Lied beginnt, dass da vielleicht doch etwas dran ist an diesem Konzept Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen."
Musik ist der emotionale Anker der gut anderthalb Stunden Gottesdienst. Sie ist auch der Grund, warum die Menschen zum Teil Tage vor dem Tor der Kapelle campieren, um einen der begehrten knapp 1500 Plätze zu ergattern. Über das Radio sind Millionen mit dabei, schätzungsweise bis zu 250 Millionen, denn seit 1928 wird der Gottesdienst jedes Jahr von der BBC übertragen, seit 1932 in die ganze Welt.
"Historischer Zufall"
"Es ist wirklich ein historischer Zufall. Es gab also nur eine kleine Handvoll Orte, aus denen gesendet wurde, und der Weihnachtsgottesdienst war zur rechten Zeit da. Und so wurde er schnell zur Tradition", erklärt Daniel Hyde, der Musikdirektor des King’s College den Mythos dieser so langen Geschichte. Das Schlüsselwort ist Tradition.
"Es ist immer um drei Uhr am Heiligen Abend. Für mich ist das der Zeitpunkt, an dem ich eine Flasche Sekt öffne und mit meiner Familie anstoße, weil es tatsächlich der Beginn von Weihnachten ist." Heiligabend-Tradition auch für Komponist John Rutter, wie er im DOMRADIO.DE-Interview erzählt hat. Der Gottesdienst selbst ist ein großes immer wieder kehrendes Ritual ist. Vieles, wie das Solo zu Beginn, ist seit 100 Jahren unverändert.
Von Sündenfall bis Johannes-Evangelium
Im Mittelpunkt stehen neun biblische Lesungen. Beginnend beim Sündenfall von Adam und Eva im Paradies über die prophetische Ankündigung des Messias und die bekannten Weihnachtserzählungen von Krippe, Hirten und Königen mündet alles in den berühmten Prolog des Johannes-Evangeliums, als neunte Lesung.
"Im Anfang war das Wort" – vorgetragen vom Dekan der Kapelle. Dass die Auswahl der Lektoren streng hierarchisch erfolgt – vom einfachen Chorsänger zu Beginn bis zum Dekan bei der 9. Lesung, wirkt auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen, genauso wie die immer noch benutzte, heute eigentlich nicht mehr alltägliche, Bibel-Übersetzung aus dem 17. Jahrhundert. Es ist Tradition.
Wortkarg, aber musikalisch abwechslungsreich
Dazu gehört auch, dass alle gesprochenen Worte des Festivals jedes Jahr identisch sind. Es gibt weder Predigt, noch Fürbitten, noch individuelle Begrüßungen oder Weihnachtswünsche – alles nicht vorgesehen. Dafür aber jede Menge beeindruckender Musik vom Chor des King’s College und die ändert sich bis auf wenige Ausnahmen Jahr für Jahr.
Rund 15-20 Stücke werden jeweils aufgeführt, drei von ihnen stehen immer fest: "O come all ye faithful", "Hark! The herald angels sing" und "Once in Royal Davids City". Den Rest sucht der Musikdirektor aus – seit 2019 ist das Daniel Hyde: "Es ist eine große Verantwortung, denn ich weiß, wie viele Menschen auf der ganzen Welt sich einschalten. Ich weiß also, wie hoch die Erwartungen sind, und ich bin verantwortlich für die Auswahl des Programms und die Ausbildung des Chores."
130 verschiedene Weihnachtslieder
Wie vielfältig die musikalische Auswahl ist, zeigt eine Zahl ganz deutlich. Seit der Jahrtausendwende sind mehr als 130 verschiedene Weihnachtslieder aufgeführt worden. Der brillante Chorklang ist seit Jahrzehnten Magnet für die Massen. Chordirektor Hyde spürt deshalb auch die Verantwortung, dass es den Charakter eines Gottesdienstes behält und nicht zum Konzert wird und natürlich, dass das Niveau nicht sinkt.
"Für mich ist ein Gottesdienst an einem Dienstag an einem kalten Februarnachmittag genauso wichtig wie Weihnachten. Weil wir die Weihnachtsgottesdienste nur auf diesem Niveau machen können, weil wir erwarten, dass wir jeden Tag auf diesem Niveau arbeiten."
Beginn sechs Wochen vor Heiligabend
Die konkrete Arbeit zur Vorbereitung beginnt ungefähr sechs Wochen vor Heiligabend. Dann beginnen auch die Proben für ein neues Weihnachtslied, das einstudiert werden will. Jedes Jahr gibt der Musikdirektor eine Komposition in Auftrag, den sogenannten "Commissioned Carol" – eine Idee von Hydes Vorgänger Stephen Cleobury.
"Seine Motivation war es, die Chormusik mit der Mainstream-Musik in Einklang zu bringen. Er war also sehr daran interessiert, dass Leute für den Chor schreiben, die selbst nicht unbedingt viel Chormusik schreiben. Auf diese Weise sind einige wunderbare Weihnachtslieder entstanden."
Klassiker
Manche von ihnen sind inzwischen selbst zu Klassikern geworden, die von vielen Chören weltweit gesungen werden. Musik des bekannten estnischen Komponisten Arvo Pärt gehört dazu oder Bob Chilcotts "Shepherds Carol". Immer wieder gibt das College neue Carols in Auftrag bei Komponistinnen, die in der Weihnachtsmusikgeschichte stark unterrepräsentiert sind.
So finden sich neben Judith Weir, die seit 2014 Master of Queen’s bzw. jetzt King’s Music ist auch beispielsweise Judith Bingham oder Cecilia McDowell, die 2021 gefragt wurde und den alten Text "There is no rose" neu vertonte.
"Etwas ganz Magisches"
Bereits zweimal für den Heiligabend im Kings College schreiben durfte John Rutter. 1987 schrieb er What sweeter music, inzwischen auch zu einem Klassiker geworden. "Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Wenn Sie ein neues Lied für das Festival of Nine Lessons and Carols am King's College schreiben, erhalten Sie zwei Eintrittskarten. Bei diesen beiden Gelegenheiten hatten meine Frau und ich das Glück, unter den Anwesenden zu sein, und es ist wirklich etwas ganz Magisches."
Tradition neu aufleben lassen
Mit den jährlichen "Commissioned Carols" versucht man in Cambridge weihnachtliche Traditionen ganz neu aufleben zu lassen, erklärt Musikdirektor Hyde bei DOMRADIO.DE. "Es ist immer interessant zu sehen, was sich ein Komponist ausdenkt. Es ist wie ein Einblick in seinen Geist. Es bewahrt uns wirklich davor, zu veralten."
Jedes Jahr ein neues Weihnachtslied, auch das ist inzwischen Tradition geworden – wie so vieles am Kings College in Cambridge – dann, wenn es wieder Heiligabend ist, um 15 Uhr.