DOMRADIO.DE: Was bedeutet Ihnen Weihnachten?
John Rutter (Englischer Komponist und Dirigent): Es ist ein Fest, das alle einbezieht. Wenn man es als religiöses Fest betrachtet, dann ist das natürlich für viele Menschen der Kern. Aber wenn man es als eine Zeit des Schlemmens und Trinkens, der Familie, der Kinder und des Zusammenseins betrachtet, ist das auch in Ordnung. Denn es hat eine Tradition, die länger zurückreicht als das Christentum selbst. Und all das kommt in dieser Weihnachtszeit sehr glücklich zusammen.
Deshalb freue ich mich jedes Jahr darauf. Die Musik macht das Fest für mich zu etwas ganz Besonderem, denn in der Musik wird die Botschaft von Weihnachten so perfekt transportiert. Für mich persönlich als Komponist und Dirigent ist es natürlich eine meiner arbeitsreichsten Zeiten im Jahr. Ab dem 26. Dezember entspanne ich mich ein wenig.
DOMRADIO.DE: Wie klingt Weihnachten? Klingt es jedes Jahr gleich oder hört sich Weihnachten immer anders an für Sie?
Rutter: Ich glaube, Weihnachten ist die Zeit im Jahr, in der jeder an den Klang eines Chores denkt. Und deshalb finde ich es so wichtig, dass Chöre ihre Weihnachtsgottesdienste und -konzerte zu etwas Besonderem machen, weil es vielleicht die einzige Zeit im Jahr ist, in der die Öffentlichkeit den Klang eines Chores zu hören bekommt. Ich liebe natürlich auch weihnachtliche Sololieder, und es gibt eine kleine Literatur für weihnachtliche Orchestermusik. Aber für mich ist der entscheidende Klang von Weihnachten der Klang eines Chores.
DOMRADIO.DE: Gibt es für Sie so etwas wie ein besonderes Weihnachtsgefühl?
Rutter: Normalerweise ist es die Vorfreude, denn wie bei allen Vergnügungen im Leben ist die Vorfreude manchmal fast das Beste. Das Tolle an der Weihnachtsmusik ist, dass sie mich nie enttäuscht. In England kochen wir am ersten Weihnachtsfeiertag Truthahn. Und was passiert? Vielleicht verbrennen wir den Truthahn und er schmeckt nicht so, wie er sollte. Oder unser Besuch, fängt an zu streiten statt sich zu freuen und sie sind vielleicht gereizt oder trinken ein bisschen zu viel.
Vielleicht läuft es nicht immer perfekt. Aber die Musik ist es, die es jedes Jahr perfekt macht. Der Geist der Weihnacht, ob geistlich oder weltlich, ist in der Musik und in den Worten der Weihnachtslieder enthalten, und das ist für mich das Herzstück von Weihnachten.
DOMRADIO.DE: Sie sind berühmt für viele Weihnachtslieder, die Sie geschrieben haben. Es gibt eine neue CD mit fünf neuen Weihnachtslieder von Ihnen? Fließt die Weihnachtsinspiration immer weiter?
Rutter: Ich glaube, es vergeht kein Jahr, in dem ich nicht ein Weihnachtslied komponiert oder arrangiert habe. Und dieses Jahr war außergewöhnlich, denn ich habe zwei neue komponiert. Und im letzten Jahr während des Lockdowns habe ich zwei weitere komponiert. Also ja, Weihnachten inspiriert mich weiterhin.
DOMRADIO.DE: Und was ist die Inspiration?
Rutter: Ich liebe es mit Weihnachten in Verbindung gebracht zu werden, denn es ist eine Zeit der Freude und des Glücks. Es inspiriert mich weiterhin, weil es ein so wunderbares Fest ist, das Menschen zusammenbringt. Es ist eine Zeit für Kinder, die sich freuen, eine Zeit, in der wir uns an Chören erfreuen und die wunderbare Weihnachtsgeschichte hören, die in den vier Evangelien der Bibel erzählt wird. Es wird mich immer wieder inspirieren, und ich bin sicher, dass es noch viele Jahrhunderte lang unzählige Komponisten inspirieren wird.
DOMRADIO.DE: Eines dieser neuen Lieder ein Teil eines Dankeschöns für das Impfteam in Oxford. Sie haben sich dafür den Heiligen Joseph ausgesucht. Können Sie uns erklären, wie es dazu kam?
Rutter: Es war auf dem Höhepunkt des Lockdowns, als das Oxford Philharmonic Orchestra an mich herantrat. Sie sagten, es gebe in Oxford ein Team von Wissenschaftlern, die daran arbeiten, die Welt zu retten: mit dem Oxford-Impfstoff, dem Impfstoff von AstraZeneca. Und das Orchester wollte ihnen gerne mit Musik danken.
Ich suchte den Heiligen Joseph aus, weil wir ihn so oft in der Weihnachtsgeschichte vergessen. Er war bei Maria, als sie mit einem Esel nach Bethlehem stapften. Er muss sehr gemischte Gefühle gehabt haben, denn sie hatte ihm erzählt, dass ein Engel sie besucht hatte und dass sie schwanger war und einen Sohn zur Welt bringen würde. Josef muss gedacht haben: Das ist eine sehr seltsame Geschichte. Deshalb dachte ich, es wäre schön, die Weihnachtsgeschichte aus seiner Perspektive in einem Weihnachtslied zu erzählen, seine Zweifel, seine Ängste.
Und dann werden sie von einem Chor von Engeln besucht, das ist dann der Chorteil. Die Engel singen: "Joseph, sieh das Wunder, das in Bethlehem geschehen wird". Das war eigentlich die Idee hinter dem Josephslied. Es gibt also Josephs Musik, die eher düster ist, und dann den Chor der Engel, der engelsgleich von oben kommt. Beides kommt in einem Musikstück zusammen.
DOMRADIO.DE: Da ist natürlich diese eine Frage, die Sie vermutlich schon so oft gehört haben zu Ihren Gedanken und Ihrer Inspiration. Arbeiten Sie einfach auf Papier? Bekommen Sie Ihre besten Ideen morgens im Bad? Oder spüren Sie göttliche Inspiration?
Rutter: Es ist sehr schwierig, das zu verallgemeinern. Manchmal kommen mir die Ideen im Bad. Und ich muss sagen, dass ich auf meiner Seite des Bettes immer etwas Notenpapier und einen Bleistift liegen habe, nur für den Fall, dass mir eine kleine Idee kommt. Aber im Allgemeinen ist es so, wie Strawinsky sagte, als er gefragt wurde, wann ihm die Ideen kommen. Er sagte: "Wenn ich arbeite."
Sie kennen doch die romantischen Geschichten von Beethoven, der mit seinem Notizbuch durch den Wienerwald spaziert und plötzlich, wie von Zauberhand, die ganze Symphonie hat. So ist es nicht wirklich. Die wirklich harte Arbeit findet im Arbeitszimmer statt, am besten ohne Unterbrechungen. Aber das ist in der heutigen Welt schwer zu bewerkstelligen, mit all den Dingen, die reinkommen, den E-Mails, den Telefonanrufen, den Reisen usw.
Aber ich versuche, allein zu sein, ich versuche, mir Zeit zu nehmen, und ich beginne mit einem leeren Blatt Papier. Und ich hoffe, dass ich am Ende mit einem gefüllten Blatt herauskomme. Aber ich weiß nicht wirklich, woher die Ideen kommen. Was ich gerne sage ist, dass die Heilige Cäcilia mir einen kleinen Besuch abgestattet hat, die Schutzpatronin der Musiker. Aber sie hat eine ganze Menge Musiker zu besuchen. Ich weiß sicher, dass einige Stücke geschrieben werden, in denen sie zu der Zeit irgendwo anders gewesen sein muss.
Wir hoffen immer auf einfach eine kleine Idee, die funktioniert, und die wir dann fortspinnen. Es ist einfach harte Arbeit, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.
DOMRADIO.DE: Wie wird Weihnachten 2021 klingen – was ist die Melodie in Ihrem Kopf?
Rutter: Weihnachten 2021 ist ein freudiges Wiedersehen. In den Konzerten, die ich bereits dirigiert habe, habe ich ein besonderes Gefühl der Aufregung und Freude verspürt, nachdem wir im letzten Jahr so frustriert waren.
DOMRADIO.DE: Also wie eine Auferstehung?
Rutter: Ja, genau. Es fühlt sich wie eine Auferstehung an. Und es ist wahr, dass wir manchmal im Leben nicht zu schätzen wissen, wie wichtig etwas für uns ist, bis es uns genommen wird. Und so wurden uns letztes Jahr zum ersten Mal seit Ewigkeiten das Singen und das musikalische Leben an Weihnachten genommen durch Umstände, die wir nicht kontrollieren konnten. Und dieses Jahr ist es zumindest teilweise zurückgekommen, also: Halleluja!
Das Interview führte Matthias Friebe.