Der Libanon – ein Land in den Zwängen der Geschichte

"Der Konfessionalismus gehört abgeschafft"

Seit der Explosion in Beirut liegen die Wunden des Libanon offen. Die Menschen protestieren auf den Straßen. Doch was genau muss sich ändern? DOMRADIO.DE-Reporterin Nina Odenius erzählt die Geschichte einer Frau und wie sie die Krise erlebt.

 Zwei Männer in einem zerstörten Gebäude gegenüber dem Ort der Explosion in Beirut / © Felipe Dana (dpa)
Zwei Männer in einem zerstörten Gebäude gegenüber dem Ort der Explosion in Beirut / © Felipe Dana ( dpa )

Es ist Dienstagabend, der 4. August gegen 18 Uhr. Takla Azar Imad und ihr Mann sitzen zu Hause auf dem Sofa. Der zweijährige Sohn schläft schon im Kinderzimmer. Plötzlich bebt die Erde. "Hast Du das gemerkt? Die Erde bebt", sagt Takla zu ihrem Mann. "Nein, was meinst Du? Da war nichts."

Dann hören sie zwei Flugzeuge. Diesen Klang kennen sie zu gut: Israelische Flugzeuge. Das wissen sie aus jahrelanger Erfahrung. Denn Israel und der Libanon sind de facto im Kriegszustand, da Israel und die im Libanon ansässige Hisbollah sich schon seit Jahren bekämpfen.

"Jetzt bombardieren sie uns", sagt Takla zu ihrem Mann. Kurz darauf ist ein lauter Knall zu hören, aber nichts weiter passiert. Zuerst ist der Gedanke das Haus zu verlassen, aber die beiden und der kleine Sohn bleiben dann doch. Sie sind schon einiges gewohnt und ein lauter Knall bringt sie nicht aus der Ruhe. So schalten sie den Fernseher an. Vielleicht berichtet man dort ja über die Ereignisse, die noch niemand zuordnen kann.

Die Folgen

In den nächsten Stunden mehren sich die Informationen, dass es sich bei dem Knall um eine Explosion im Hafen der Hauptstadt Beirut gehandelt hat. Diese Katastrophe zerstört große Teile Beiruts, ca. 170 Menschen sterben, tausende Verletzte sind zu verzeichnen und Hunderttausende werden obdachlos. Im Hafen waren 2750 Tonnen Ammoniumnitrat ohne Sicherheitsvorkehrungen gelagert worden und explodiert.

Trauer und Wut

Takla und ihre Familie leben in einer Kleinstadt etwa 20 Kilometer von Beirut entfernt. "Wir wissen zwar, dass das Ammoniumnitrat für die Explosion verantwortlich ist, aber warum die Chemikalie explodiert ist, sagt uns niemand", prangert Takla Azar Imad an.

Sie ist zwar nicht direkt von der Explosion betroffen, aber von deren Folgen. Auch sie demonstrierte wie viele Libanesen in Beirut auf dem Märtyrerplatz für Reformen und den Sturz der Regierung. "Nach der Explosion war das ganze Land traurig und wütend. Wir haben schon seit langem genug von der Korruption und den Eliten. Wir haben kein Parlament, sondern unsere Regierung ist eine Bande aus sechs Chefs, die den Käse untereinander aufteilen. Das sind die Diebe unseres Landes."

Takla Azar Imad und ihre Landsleute gehen hart mit der Regierung ins Gericht. Sie wollen Veränderung. Dass die Regierung Warnungen im Vorfeld der Explosion ignorierte, die das ungesichert gelagerte Ammoniumnitrat im Hafen betrafen, wundert sie nicht. Die Regierung interessiere sich nicht für das Volk, sondern sei nur an Geld und Macht interessiert. Die Regierung um Hassan Diab ist zwar auf Druck der Straße zurückgetreten, aber die Wirtschaftskrise, der Verfall der libanesischen Währung und die Arbeitslosigkeit bleiben.

Die Rolle der Religion

Takla Azar Imad hat in Rom Religionswissenschaften studiert und im Libanon einen Master in Erziehungswissenschaften gemacht. Sie hat an einer katholischen Schule gearbeitet. Aufgrund von notwendigen Sparmaßnahmen musste die Schule Personal entlassen, dazu gehörte auch Takla.

Für die 41jährige ist Religion sehr wichtig. Sie ist maronitische Christin, geht regelmäßig in die Kirche und betet viel. Die Religion spiele generell im Libanon eine große Rolle, erklärt sie. Neben Christen und Muslimen gibt es auch eine drusische Gemeinschaft im Land. Diese drei Religionsgemeinschaften leben friedlich im Libanon zusammen. Es gibt sogar Ehen zwischen Christen und Muslimen.

Das Problem sei die Politik und der von Frankreich in den 1920er Jahren eingeführte Konfessionalismus. Dieser schreibt vor, dass der Staatspräsident stets maronitischer Christ, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident schiitischer Muslim sein muss. Außerdem müssen die Hälfte der Sitze im Parlament an Christen und Muslime vergeben werden. Diese festen Strukturen machen eine Regierungsbildung oft schwierig.

Hoffnung auf einen Neuanfang

Nun muss wieder eine neue Regierung im Libanon gebildet werden. Takla Azar Imad hofft auf eine neutrale Regierung ohne konfessionelle Zwänge. Schon seit vergangenem Oktober hatte es im Libanon Proteste gegeben.

"Wir wollen endlich Reformen und einen stabilen Zivilstaat. Vor allem soll der Konfessionalismus abgeschafft werden. Durch die Explosion im Hafen haben wir eine reelle Chance etwas zu verändern. Jetzt ist die Zeit für ernsthafte Reformen." Aber ohne die Hilfe des Westens wird das nicht gehen, glaubt Takla Azar Imad. Der Westen muss bei der Regierungsbildung mithelfen und darf die alten Strukturen nicht mehr unterstützen.

Die Libanesen wünschen sich einen stabilen Staat, in dem Menschenrechte für Männer und Frauen geachtet und umgesetzt werden. Die alten Eliten und die Korruption sollen neuen und besseren Strukturen weichen. "Meine Generation hat den Bürgerkrieg erlebt. Zurzeit erleben wir die Wirtschaftskrise, die syrische Flüchtlingskrise und die Folgen der Covid19-Pandemie. Ich möchte, dass mein Sohn das alles nicht erleben muss. Er soll eine bessere Zukunft haben und in einem friedlichen Land leben können."

Trotz ihres Studiums in Europa ist Takla wieder in den Libanon zurückgekehrt. Obwohl es viele Missstände gibt, fühlt sie sich mit ihrem Heimatland eng verbunden und möchte nirgendwo anders als im Libanon leben.  


Takla Azar Imad / © privat (DR)
Takla Azar Imad / © privat ( DR )
Quelle:
DR
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