Erneut hat der Papst einen eindringlichen Appell an Europa gerichtet: "Ich träume von einem solidarischen und großzügigen Europa." Angesichts der Corona-Krise sieht er den Kontinent am Scheideweg zwischen nationalen Alleingängen und den Idealen der Gründerväter der EU.
Sein am Dienstag veröffentlichtes Plädoyer folgt drei Wochen nach der Enzyklika "Fratelli tutti" - den bittenden, beschwörenden Aufruf an die Weltgemeinschaft zu zwischenmenschlichem Zusammenhalt bricht er jetzt herunter auf die kontinentale Ebene.
Nicht seine erste Mahnrede an den Kontinent
Es ist nicht das erste Mal, dass der Papst aus Lateinamerika dem alten Kontinent ins Gewissen redet. 2014 bei einem Besuch in Straßburg nahm Franziskus kein Blatt vor den Mund. Europa wirke alt und müde wie eine "unfruchtbare Großmutter". Der Kontinent müsse darüber nachdenken, ob "sein gewaltiges Erbe" nur "museales Vermächtnis" sei oder ob er es noch vermöchte, "die Kultur zu inspirieren und seine Schätze der gesamten Menschheit zu erschließen".
Als er 2016 den Karlspreis erhielt, wunderte sich Franziskus in seiner Dankesrede laut über ein Europa, das sich "verschanzt" und die Werte seiner Gründerväter verrate; das Mauern baue und Brücken einreiße: "Was ist mit dir los, humanistisches Europa, Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit?"
Zuletzt an Ostern, schon unter dem Schatten der Corona-Pandemie, schlug das Kirchenoberhaupt im leeren Petersdom warnend-dunkle Töne an. Die Europäische Union stehe vor "einer epochalen Herausforderung, von der nicht nur ihre Zukunft, sondern die der ganzen Welt abhängt".
Als einzige Alternative zu einem "Egoismus der Einzelinteressen" und der Rückkehr in die Konflikte der Vergangenheit bleibe ein neuer Geist der Solidarität - jene Solidarität, die Europa nach dem Weltkrieg in seinen Trümmern selbst erlebt hatte.
"Indizien für einen Rückschritt"
So äußert sich der Papst auch jetzt besorgt über eine "Versuchung von Alleingängen", die die EU seit einem Jahrzehnt plage. Es gebe "Indizien für einen Rückschritt", warnt er - ohne Nennung von Beispielen. Stattdessen gelte es, die Werte der Geschwisterlichkeit wiederzuentdecken, die die Gründer der Union beseelten. Die Pandemie nennt er eine "Wasserscheide".
Äußerer Anlass seiner Wortmeldung war eine Reise von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin zu verschiedenen Jubiläumsveranstaltungen in Brüssel. Die ab Mittwoch geplanten Treffen finden coronabedingt nur per Video statt; Franziskus gab seinem Chefdiplomaten Parolin aber einen Brief mit, den der Vatikan jetzt in mehreren Sprachen verbreitete. Es ist ein Grundsatzappell.
"Europa, finde zu dir selbst! Entdecke deine Ideale wieder, die tiefe Wurzeln haben. Sei du selbst!", schreibt Franziskus. Europa dürfe keine Angst haben vor seiner jahrtausendealten Geschichte, vor der Wahrheitssuche des antiken Griechenland, dem Streben nach Gerechtigkeit, wie es das römische Justizsystem formte, vor dem Verlangen nach Ewigkeit aus der jüdisch-christlichen Tradition.
Und Europa dürfe sich nicht in den Bann derer ziehen lassen, "die Klage und Spaltung zu ihrem persönlichen, sozialen und politischen Lebensstil machen". Aus Sicht des Papstes hat der Kontinent weiter eine zentrale Rolle für die Menschheit zu spielen, wenn auch "mit anderen Akzenten" als in der Vergangenheit.
Niemand schafft es alleine
Gegen diejenigen, die Europas Rolle vor allem in einer dritten geopolitischen Macht zwischen den USA und China sehen, wendet sich Franziskus gegen eine bloße "Wiedererlangung einer politischen Vorherrschaft". Der "ureigene Beitrag" Europas, seine Originalität liege "vor allem in seinem Menschenbild und in seiner Weltsicht; in seiner Fähigkeit, Initiativen zu ergreifen, und in seiner praktischen Solidarität."
Die Pandemie hat laut Franziskus gezeigt, "dass niemand es alleine schafft". So wirbt er für ein Europa, "das solidarisch und geschwisterlich ist" - eines, das nationale Egoismen vermeidet und dennoch die Unterschiede und den Beitrag jedes Einzelnen fruchtbar macht. Als Prüfsteine echter Humanität nennt er - traditionell katholisch - Lebensschutz und den Schutz der Schwächsten und Gebrechlichsten, aber auch die Themen Migration, Beschäftigung, Bildung und Ökologie.
In einer etwas überraschenden Wendung bekennt der Papst, er träume "von einem gesund säkularen Europa", in dem Religion und Staat "zwar unterschiedliche, aber nicht einander entgegengesetzte Wirklichkeiten bezeichnen". Offenkundig ist für ihn, "dass eine Kultur oder ein politisches System, das die Offenheit für die Transzendenz nicht achtet, auch die menschliche Person nicht angemessen respektiert" - hier sieht er auch die Christen als Sauerteig im alten Abendland in der Verantwortung.