DOMRADIO.DE: Im Jahr 2002 brachte die Bundesregierung das Prostitutionsgesetz auf den Weg, dass Sexarbeiterinnen mehr soziale Absicherung bieten sollte. Sie konnten sich danach regulär sozial versichern. Das haben aber bislang nur 76 Frauen in ganz Deutschland gemacht. Das ist jetzt durch eine Anfrage der FDP-Fraktion im Bundestag rausgekommen. Offenbar kein durchschlagender Erfolg, denn hierzulande arbeiten schätzungsweise 200.000 Frauen als Prostituierte.
Auch das 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz - es ergänzt das Prostitutionsgesetz - zeigt der Regierungsantwort zufolge nur mäßige Erfolge. Seither müssen sich Prostituierte bei ihren Kommunen registrieren und sich regelmäßig gesundheitlich beraten lassen. Ist das Prostitutionsgesetz ein typisches Beispiel für "Gut gedacht, schlecht gemacht" oder ist das ein Problem der Statistik?
René Pieper (Leiter der Prostituierten-Hilfe beim Sozialdienst katholischer Frauen in Köln): Die Statistik ist nicht das Problem - im Gegenteil. Es zeigt die Realität der Frauen auf. Das Problem sind die Gesetze, die man aufgestellt hat. Diese gehen allerdings sehr an der Realität der Frauen vorbei. Prostitution hat viel mit Angst und Stigmatisierung zu tun. Stigmatisierung zeigt sich durch die Ausübung von Sexarbeit, die nicht als Beruf anerkannt ist. Frauen und auch Männer, die sich prostituieren, stehen immer noch ganz unten in der "Nahrungskette". Sie erfahren viel Diskriminierung und haben Angst. Die meisten Frauen wollen einfach anonym arbeiten und es soll gar nicht bekannt werden, dass sie der Sexarbeit nachgehen. Deswegen ist das Gesetz gut gedacht, allerdings schlecht gemacht.
DOMRADIO.DE: Der Katechismus der katholischen Kirche verbietet die Prostitution. Wer sie in Anspruch nimmt, sündigt schwer. Nun hat es sie aber immer schon gegeben und wird sie wohl auch immer geben. Da ist der Gedanke, dass sich Prostituierte auch sozial versichern können, doch eigentlich erst einmal gut. Das heißt, sie haben dann Anspruch auf Krankenkassenleistungen oder später eine Rente. Sie haben es schon angedeutet, warum melden sich da so wenige an?
Pieper: Wie gerade schon erwähnt, spielen Angst und Stigmatisierung einfach eine sehr große Rolle. In manchen Herkunftsländern, aus denen die Frauen stammen, steht auf Sexarbeit noch die Todesstrafe. Da ist einfach die Angst, dass rauskommt, dass sie hier in Deutschland der Sexarbeit nachgehen, viel größer als der Willen nach Inanspruchnahme von sozialen Leistungen.
DOMRADIO.DE: Die Prostituierten nehmen ihre Ängste aus den Heimatländern mit hierhin und vertrauen nicht der deutschen Rechtsprechung?
Pieper: Genau. Viele switchen auch zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland hin und her. Sie sind vielleicht nur ein paar Monate hier, um ein bisschen Geld für sich und ihre Familie zu verdienen und fahren dann wieder zurück.
DOMRADIO.DE: Wie könnte man denn diesem Problem begegnen? Was muss denn passieren, damit Prostituierte auch eine soziale Absicherung haben?
Pieper: Es geht immer noch um den Abbau von Stigmatisierung und gleichzeitig den Vertrauensaufbau unsererseits. Wir wollen den Frauen helfen, sie auf dem Weg in soziale Absicherungen zu begleiten. Wir können aber nur schwer die Ängste der Frauen nehmen. Da gilt es einfach für uns, Vertrauen aufzubauen und Schritt für Schritt zu schauen, wie wir den Frauen, die sich bei uns melden, helfen können. Gleichzeitig müssen wir sehen, wie wir die Frauen trotz der Angst, die über ihnen schwebt, irgendwie ins System reinbringen.
DOMRADIO.DE: Jetzt schauen Sie wahrscheinlich eher auf Einzelfälle. Aber eine Regierung muss natürlich Rahmenbedingungen für viele schaffen. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung das Gesetz auch noch um das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz erweitert. Seitdem sollen sich Prostituierte bei ihren Kommunen registrieren und regelmäßig gesundheitlich beraten lassen. Das soll vor Zwangsprostitution schützen. Auch darauf hat nur ein Bruchteil reagiert. Gehen denn die Gesetze der Bundesregierung an der Realität der Frauen komplett vorbei?
Pieper: Eindeutig. Die Themen Angst und Stigmatisierung sind bei dem neuen Gesetzesentwurf wieder nicht in Angriff genommen worden. Im Gegenteil: Die Frauen müssen sich jetzt verpflichtend anmelden. Und zwar nicht mit einem anonymen Namen, sondern mit realen Daten - unter anderem auch, aus welchem Herkunftsland sie kommen. Diese Daten gehen alle in ein System ein. Es ist bekannt, dass die Daten auch ans Finanzamt weitergeleitet werden. Hierbei besteht auch wieder die große Angst, dass Dritte wie zum Beispiel Ehemänner, Arbeitgeber oder verschiedene Ämter mitbekommen, dass die Frau der Sexarbeit nachgeht oder dass der Beruf der Sexarbeit bis ins Herkunftsland kommuniziert wird.
DOMRADIO.DE: Viele Experten beklagen, dass die Situation in den vergangenen Jahren eher schlechter als besser für die Frauen geworden ist: mehr Zwangsprostitution, Preisverfall, Stichwort Flatrate in Bordellen. Sollte man es vielleicht ganz anders machen und Prostitution ganz verbieten oder die Freier unter Strafe stellen, so wie die Skandinavier das machen?
Pieper: Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Prostitution ganz zu verbieten, führt unserer Meinung nach nur zur Illegalität. Das heißt, die Frauen werden irgendwo in den dunkelsten Ecken der Sexarbeit nachgehen. Es ist schwierig für die Frauen, dann noch den Schritt in Beratungsstellen zu gehen, weil sie ja etwas Illegales machen.
Bestrafung von Freiern klingt vielleicht auf den ersten Blick als eine Art Lösung. Aber gleichzeitig denken wir dann an die Frauen. Was passiert mit denen, die beispielsweise wegen Drogenkonsums Druck haben? Oder wenn man an den geschützten Straßenstrich denkt, wo die Frauen in einem geschützten Rahmen der Prostitution nachgehen können. Ist die Prostitution verboten, dürfen die Frauen nicht mehr kommen. Werden die Freier bestraft, werden die Freier nicht mehr kommen. Das bedeutet, so ein Gelände würde geschlossen und die Frauen haben so keinen geschützten Rahmen mehr.
DOMRADIO.DE: Auch Sie wissen nicht genau, wie eine Lösung aussehen könnte?
Pieper: Wenn man etwas Gutes für die Frauen machen möchte, wäre es auf jeden Fall eine Lösung, die Gesetze so zu verändern, dass ein Ausstieg für die Frauen viel einfacher würde. Ein gutes Beispiel dazu: Wenn die Frau in einem Bordell wohnt und arbeitet, aber aus der Prostitution aussteigen möchte, hat sie keinen Wohnraum mehr. Wohnraum zu finden, ist sehr, sehr schwierig, zumal sie vielleicht noch gar keine andere Arbeit hat, um diese Wohnung zu finanzieren. Da müssten die Gesetze anfangen, damit man viel früher den Frauen helfen könnte.
Das Interview führte Heike Sicconi.