Ulrike Almut Sandig über ihren Roman "Monster wie wir"

Der sexuelle Missbrauch und das Schweigen

"Das Schweigen ist der Leim, der die Verbrechen möglich macht", sagt Ulrike Almut Sandig im Interview. In ihrem Debutroman "Monster wie wir" geht es um sexualisierten Missbrauch an Kindern und deren Folgen.

Ulrike Almut Sandig / © Michael Aust, Villa Concordia (Schöffling)
Ulrike Almut Sandig / © Michael Aust, Villa Concordia ( Schöffling )

In ihrem Roman "Monster wie wir" sucht Ulrike Almut Sandig mit literarischen Mitteln nach den Ursachen und Zusammenhängen von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Die Autorin fragt nach, was bedeutet das Schweigen über diese Verbrechen und das Verdrängen.

Ruth wird von ihrem Großvater missbraucht. Das Verbrechen geschieht im Umfeld eines Pfarrhaushaltes, in dem Ruth aufwächst. Den Ort der Handlung hat die Autorin bewußt gewählt. "In einem Pfarrhaushalt gibt es den Anspruch, besser zu sein als der Rest der Gesellschaft", sagt sie, "wir alle wissen aber, dass dort keine besseren Menschen leben - als die, die keine Christen sind". Wichtig für den Roman, sagt die Autorin, sei auch, dass die Pfarrersfamilie in Ostdeutschland, in der DDR, lebt und dadurch eine von politischer Gewalt geprägte Familienbiografie hat. Sandig fragt in ihrem Buch: "Was es mit den Menschen macht, wenn sie in so einem Milieu aufwachsen, in dem klar ist, der Staat darf deine Biografie einfach so prägen, verbiegen, dich aus der Schule werfen, der kann das machen. Was macht das mit den Familien?"

Das Private ist auch immer politisch

Im Roman überhören die Familienangehörige die Signale, die Ruth aussendet. Sie hat große Angst vor Vampiren. Nach Ursachen für diese Angst wird nicht weiter gefragt. Die Eltern sind mit sich selbst beschäftigt, mit ihren Konflikten, mit dem Überleben in einem diktatorischen Staat. "Ich kenne Züge davon aus meiner Familie", erzählt Ulrike Almut Sandig, die auch in einem Pfarrhaushalt aufgewachsen ist. "Man ist doch sehr damit beschäftigt, klarzukommen - in diesen seltsamen Zeiten der späten DDR und den langen, unruhigen und unübersichtlichen Wendejahren. Das Private war immer auch politisch. Und man hat gelernt, man kommt besser durchs Leben, wenn man weniger spricht und wenn man sich unauffälliger verhält", sagt sie.

Suche nach Ursachen mit literarischen Mitteln

Weil Ulrike Almut Sandig selbst in einem Pfarrhaushalt aufgewachsen ist, wird sie oft gefragt, ob sie in dem Roman persönliche Erlebnisse sexualisierter Gewalt im Elternhaus verarbeitet. Das ärgert sie sehr. "Da werden Schlagwörter in den Raum geworfen, ohne dass man den Roman gelesen hat, die dann großes Interesse hervorrufen, wenn es um sexuellen Missbrauch und Pfarrhaus geht". Sie stellt richtig, dass es in dem Buch keinen sexuellen Missbrauch im Pfarrhaus gibt, sondern im Haus des Großvaters. Auch wenn sie in den Millieubeschreibungen des Pfarrhauses Anleihen aus ihrer Vergangenheit nimmt, ist das Buch ein erfundener Roman, der mit literarischen Mitteln Fragen stellt, die sexualisierte Gewalt betreffen.

Freundschaft hilft

Ruth kann nicht darüber sprechen, was ihr angetan wird. Sie flüchtet in die Musik. Sie spielt Geige. Da kann sie alles vergessen. Ihr bester Kindheitsfreund Victor, Sohn eines NVA Soldaten, erleidet ein ähnliches Schicksal. Hier ist es der Freund der älteren Schwester, der ihn missbraucht. Victor reagiert anders als Ruth. Er kann Worte für das Verbrechen finden, das Formulieren hilft ihm, auch wenn diese Worte auf keine Reaktion stoßen. Victor wehrt sich, indem er Springerstiefel anzieht und selbst in die Haut eines Monsters schlüpft, weil er sich dann stark fühlt und mächtig genug, um sich vor Übergriffen zu schützen. "Ruth und Victor, so unterschiedlich ihre Reaktion auf die erlittene Gewalt ist," sagt die Autorin, "bleiben ein Leben lang Freunde, sie müssen einander nichts erklären. Und diese Art von Freundschaft ist etwas, was mich durch das ganze Buch getragen hat, diese Kraft der Empathie, trotz aller Unterschiede zwischen den beiden. Das ist schon etwas, was auch hilft zu überleben".

Die Ambivalenz der Erinnerungsmauern

Die Kinder können über die Gewalt, die ihnen angetan wird, nicht sprechen. Um sich zu schützen und das Trauma zu bewältigen, bauen sie Erinnerungsmauern auf, die ambivalent sind. Opfer von sexualisierter Gewalt können sich häufig Jahrzehnte nicht daran erinnern, was ihnen angetan wurde. Und wenn sie sich daran erinnern können, werden sie oft auf andere Art diskriminiert, sagt Ulrike Almut Sandig: "Wenn es dann heißt, du armes Opfer, um dich muss man sich kümmern. Denn wer als Opfer hingestellt wird, der gehört nicht mehr in meine Liga. Und das ist auch eine Form von Aggression. So eine Abkapselung des Opfers als etwas, was mit uns und mit mir nichts zu tun hat".

Mechanismen des Vergessens

Heute wird offener über sexualisierte Gewalt gesprochen als noch vor dreißig, vierzig Jahren. Es gibt Prävention und Aufarbeitung. Aber, so ist Ulrike Almut Sandig überzeugt, die sexualisierte Gewalt, die Verbrechen an Kindern, die gibt es nach wie vor. "Nur weil es diese offene Debatte gibt, heißt das noch lange nicht, dass zuhause die eigenen Mechanismen so durchdacht sind. Man liest dann darüber und sagt, ah ja, interessant, dass die Opfer sich da immer so schämen. Naja, mir würde das nicht passieren, sagt die ältere Ruth im Roman. Und das ist auch ein Satz, den ich von Erwachsenen kenne". Ulrike Almut Sandig erzählt dann von einer Schulfreundin, die ihr als die beiden Kinder acht Jahre alt waren beim Spielen erzählt habe, was jemand aus ihrer Familie mit ihr gemacht habe. Es sei dabei um sexuellen Mißbrauch gegangen. Damals habe sie das Wort nicht gekannt. "Nachdem dieser Roman fertig war, habe ich sie wieder getroffen, und wir haben uns ausgetauscht, was aus unserem Leben geworden ist. Und dann habe ich ihr gesagt, welches Buch ich geschrieben habe. Sie hat gesagt, ja, das sei ein schwieriges Thema. Sie sagte weiter, sie könne sich an ihre Kindheit nicht erinnern. Es war vollkommen klar, dass sie auch vergessen hatte, was sie mir als Kind erzählt hatte und dass ich sie natürlich nicht daran erinnern kann. Diese Mechanismen des Vergessens führen dazu, dass man sich damit auch leider nicht auseinandersetzen kann. So gut und überlebenswichtig, wie diese Erinnerungsmauern sind, dieser Schutzwall, um das Trauma zu überleben, so bleibt das auch später in uns und hat Folgen."


Quelle:
DR