DOMRADIO.DE: Zum 1. September übernehmen Sie die Leitung des "Jesuit Refugee Service" in Rom, der in Deutschland als Jesuiten-Flüchtlingsdienst bekannt ist. Sie sind der dritte Deutsche und der erste Laienbruder der Jesuiten in dieser Position. Warum braucht es eigentlich ein kirchliches Engagement für Geflüchtete? Es gibt ja auch genug staatliche Stellen, die da helfen.
Bruder Michael Schöpf (Leiter des "Jesuit Refugee Service" / JRS): Ich glaube, ein wichtiger Unterschied der kirchlichen Arbeit besteht darin, dass wir nicht mit einem Service oder mit einer politischen Arbeit anfangen, sondern mit der Begleitung von Geflüchteten.
Es geht darum, persönlich eine Beziehung mit Geflüchteten einzugehen und den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. Daraus entwickeln sich unsere Programme und unsere Arbeit. Ich glaube, das ist ein Spezifikum der Kirche, das auch einen pastoralen Ansatz widerspiegelt.
DOMRADIO.DE: Wie sieht das konkret aus? Sie bieten zum Beispiel rechtliche Hilfe für den einzelnen Geflüchteten an, der auf dem Weg ist.
Schöpf: Wir haben eine ganze Reihe von Programmen. Rechtliche Hilfe ist eine Möglichkeit. Wir haben viele Bildungsprogramme, wir sind auch im psychosozialen Bereich spezialisiert. Wichtig ist immer, dass ich der Person begegne.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Ich war im Sommer in Indonesien und habe dort die "Home Visits" begleitet. Wir sind zu geflüchteten Familien nach Hause gefahren, die unter prekären Bedingungen leben: Eine junge Familie mit einem neun Monate alten Baby, das im nächsten Monat auf der Straße leben wird und in der Moschee schlafen wird, weil die Familie keine 70 oder 100 Euro auftreiben kann.
Die sagen uns: "Von den anderen bekommen wir einen Brief. Aber ihr kommt und ihr sprecht mit uns. Das verändert unsere eigene Perspektive und das ist sehr wichtig für unsere Arbeit."
DOMRADIO.DE: Das Thema Flucht hat im letzten Jahrzehnt ja noch mal einiges an Relevanz gewonnen. Sie arbeiten seit 2014 schon für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst. Wie hat sich das Bewusstsein für das Thema in dieser Zeit verändert? Wenn wir an die deutsche Öffentlichkeit denken, ist das Thema dort vielleicht erst 2015 mit Angela Merkels "Wir schaffen das" im Bewusstsein der Leute angekommen.
Schöpf: Das ist richtig, auch wenn natürlich im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit immer schon ein Bewusstsein dafür da war. Im Moment, glaube ich, spüren wir sehr viel Gegenwind, wenn wir den ganzen Menschen in den Blick nehmen wollen. Das ist in Deutschland und in Europa so, aber zum Teil auch in anderen Situationen.
Ich glaube, wir sind in einer Situation, wo wir sehr viel mehr Gewalt und damit eben auch Vertreibung erleben als in den vergangenen Jahren. In dieser Situation ist es ganz besonders wichtig, dass unsere Schutzinstrumente greifen.
Ein Schutzinstrument, das nur in Situationen greift, in denen es kaum benötigt wird, ist nichts wert. Deswegen müssen wir darum kämpfen, dass effektiver Flüchtlingsschutz auch in dieser Situation gewährleistet ist.
Die Frage, die wir stellen müssen, ist nicht: Was können wir nicht mehr machen? Die Frage, die wir stellen müssen, ist: Was können wir in dieser Situation, die ohne Zweifel schwierig ist, machen, um in Beziehung mit den Geflüchteten zu treten und sie als Personen wahrzunehmen und dann eine gemeinsame Zukunft mit ihnen aufzubauen?
DOMRADIO.DE: Der Druck wächst an verschiedenen Stellen. Wie sieht das denn konkret aus? Krisen wie Syrien oder die Ukraine sind in den Nachrichten sehr präsent. Welche Flüchtlingskrisen gehen denn unter bei uns?
Schöpf: Ich glaube, dass die Leute, die aktuell aus dem Sudan fliehen, unter ganz dramatischen Bedingungen fliehen. Ich habe viele Leute getroffen, die Verwandte an den Grenzen - zum Beispiel zwischen Sudan und Südsudan oder zum Tschad - haben. Die sagen, es gibt schlimmste Menschenrechtsverletzungen. Davon lesen wir in der Öffentlichkeit überhaupt nichts.
Es gibt auch andere Krisen, die wir kaum wahrnehmen, weil sie politisch nicht interessant sind. Ich denke hier vor allen Dingen an Myanmar. Es gibt kaum ein geopolitisches Interesse des Westens an Myanmar, was es der Militärjunta ermöglicht, mit ihrer Bevölkerung umzugehen, wie sie möchte.
Die Konsequenzen sehen wir im Land. Wir haben Schulprogramme dort. Ich kann mich an ein Foto erinnern, wo zu sehen ist, wie die kleinen Mädchen und Jungen ihre Aufgaben in einem Graben machen, der an einen Schützengraben erinnert. Weil das der einzige Ort ist, an dem Schule abgehalten werden kann.
Und eine dritte Situation ist bei uns sehr wenig bekannt. Nämlich wenn Leute über lange Zeit von Wegstation zu Wegstation flüchten. Ich denke hier an die Menschen, die aus Venezuela flüchten, vielleicht zuerst nach Kolumbien, dann durch den Dschungel in Mittelamerika, dann durch ein sehr gewalttätiges Mexiko. Mit jeder dieser Stationen steigt die Gewalterfahrung, die die Menschen machen und sie erleiden zunehmend Menschenrechtsverletzungen.
Es ist sehr wichtig, diese Situationen zu verbinden, sowohl für eine effektive Hilfe als auch für die politische Arbeit. Wir können hier viel von anderen und voneinander lernen.
DOMRADIO.DE: Ihr Jesuiten-Ordensbruder Papst Franziskus legt auch großen Wert auf Flüchtlingshilfe. Die erste Papstreise 2013 ging nach Lampedusa. Bekommen Sie in Ihrer Arbeit von ganz oben Unterstützung? Wie ist das Verhältnis vom Papst zum Jesuiten-Flüchtlingsdienst?
Schöpf: Wir haben einen sehr guten Kontakt mit dem Dikasterium, das für diese Arbeit zuständig ist und Kardinal Michael Czerny. Und natürlich ist es ohne Frage, dass die Unterstützung des Papstes mit seinen Reisen, seinen Reden und mit den konkreten Hilfen, die er anbietet, ein unglaubliches Potenzial für uns bietet.
Die Unterstützung ist deshalb wichtig, weil sie uns ermöglicht, Dinge zur Sprache zu bringen, die ansonsten kaum Gehör finden würden.
DOMRADIO.DE: Sie sind der dritte Deutsche, der den weltweiten Jesuiten-Flüchtlingsdienst leitet. Sie sind aber der erste Laienbruder, also der erste Nicht-Priester. Sehen Sie da auch ein Signal in den Orden hinein?
Schöpf: Ich habe bei meiner Ernennung gemerkt, dass es wahrgenommen wird. Eine ganze Reihe von Jesuitenbrüdern haben mir geschrieben - vor allen Dingen aus dem asiatischen Raum - dass sie sehen, dass ihre Identität, Jesuit zu sein, auch einen prominenten Platz findet und damit mehr Anerkennung und Respekt in den Umgebungen, in denen sie arbeiten.
Auf der anderen Seite ist es nichts Besonderes. Wir sind alle Jesuiten. Es gibt keinen Graben zwischen Priestern und Brüdern. Es fällt auf, weil es wenige Brüder gibt.
Ich hoffe natürlich persönlich, dass es auch eine Werbung für Menschen ist, die nicht Priester werden wollen, die sich aber trotzdem in dieser Weise mit einer jesuitischen Spiritualität engagieren wollen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.