Deutscher Priester berichtet von den Angriffen auf Jerusalem

"Es ist schwierig, das auszuhalten"

Mehr als 300 Drohnen hat der Iran in der Nacht zum Sonntag auf Israel abgefeuert. Der deutsche Priester Stephan Wahl lebt in Jerusalem und erzählt, wie er die Angriffe erlebt hat und wie er in die Zukunft seiner Wahlheimat blickt.

Blick auf eine israelische Flagge vor einem Dorf / © Ariel Schalit (dpa)
Blick auf eine israelische Flagge vor einem Dorf / © Ariel Schalit ( dpa )

DOMRADIO.DE: Erstmals in der Geschichte des Irans greift das Land seinen Erzfeind Israel direkt an. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurden mehr als 300 Drohnen und Raketen abgeschossen, die zum Teil auch Jerusalem erreichten. Wie haben Sie die vergangene Nacht erlebt?

Msgr. Stephan Wahl (KNA)
Msgr. Stephan Wahl / ( KNA )

Msgr. Stephan Wahl (Autor und Priester in Jerusalem): Hier hat jeder damit gerechnet, dass der Iran seine Ankündigungen wahr macht. Es gab Warnungen durch die deutsche Botschaft, aber wir wussten nicht, wann es passieren würde. Am späten Samstagabend kam dann die Bestätigung, dass Drohnen unterwegs sind und dann war es mit der Abendruhe vorbei. 

Ich bin wach geblieben, weil ich nicht genau wusste, was passieren würde. Aber als hier in Jerusalem die Sirenen heulten und man am Himmel die Missiles sah, die auf Jerusalem gerichtet waren und abgefangen wurden, war ich sehr überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass auch Jerusalem selbst angegriffen wird. 

Das israelische Luftabwehrsystem "Iron Dome" feuert, um vom Iran abgefeuerte Raketen in der Nacht zum 14. April 2024 abzufangen. / © Tomer Neuberg/AP (dpa)
Das israelische Luftabwehrsystem "Iron Dome" feuert, um vom Iran abgefeuerte Raketen in der Nacht zum 14. April 2024 abzufangen. / © Tomer Neuberg/AP ( dpa )

Ich bin natürlich hier in Ostjerusalem sehr sicher, weil es der palästinensische Teil ist, aber es war schon ein sehr eigenartiges Gefühl und es hat mich ziemlich angefasst. Es war das erste Mal, dass der Iran Israel direkt angegriffen hat und was daraus folgt, wird auch sehr davon abhängen, wie Israel jetzt reagiert. 

Stephan Wahl

"Als hier in Jerusalem die Sirenen heulten und man am Himmel die Missiles sah, (...) war ich sehr überrascht."

DOMRADIO.DE: Wie haben die Menschen in Ihrem Umfeld das erlebt? Herrscht Panik oder Besonnenheit? Sitzen die Ausländer auf gepackten Koffern? 

Wahl: Die Leute, die ich kenne, sitzen nicht auf gepackten Koffern. Wir halten natürlich Kontakt, haben sehr viel telefoniert oder WhatsApp-Nachrichten geschrieben. Manche sind heute bewusst zu Hause geblieben und auch nicht in den Gottesdienst gegangen. Und jetzt herrscht Erleichterung darüber, dass die meisten Raketen abgefangen wurden und es insgesamt keine hohen Opferzahlen gibt. 

Stephan Wahl

"Die Leute, die ich kenne, sitzen nicht auf gepackten Koffern."

DOMRADIO.DE: Dem Beschuss war der Angriff auf ein diplomatisches Gebäude des Iran in Syrien am 1. April vorausgegangen. Dabei wurde einer der höchstrangigen iranischen Offiziere getötet, dahinter soll Israel stecken. Es war absehbar, dass der Iran darauf reagieren würde. Warum hat Israel das gemacht?

Wahl: Das ist mir völlig rätselhaft. Und es gibt auch viele Stimmen hier, die das für einen Fehler halten. Es ist offensichtlich, dass es bei der Aktion um die Liquidierung von iranischen Generälen ging und dass Israel dahintersteckt. Ich verstehe nicht, dass die Entscheidungsträger diese Folgen nicht bedacht haben. Manche sagen sogar, dass es gezielt war, denn die israelische Regierung unter Netanjahu kommt nicht weiter mit dem Gazakrieg. Und das könnte ihnen jetzt in die Hände spielen, wenn sich die Welt an die Seite Israels stellt und der Iran als Bösewicht gilt. 

Zerstörtes Gebäude auf dem Gelände der iranischen Botschaft in Damaskus / © Hummam Sheikh Ali/XinHua (dpa)
Zerstörtes Gebäude auf dem Gelände der iranischen Botschaft in Damaskus / © Hummam Sheikh Ali/XinHua ( dpa )

Ich halte das für fatal: Als die Nachricht damals kam, war ich im Norden am See Genezareth und wir konnten die israelischen Bomber auf dem Weg nach Damaskus hören. Damals dachte ich schon: "Das geht nicht gut aus". Jetzt bleibt abzuwarten, wie Iran reagiert, weil aus deren Sicht die Attacke der vergangenen Nacht völlig fehlgeschlagen ist. Fast alle Raketen wurden abgeschossen. 

DOMRADIO.DE: Es kamen auch Angriffe von den mit dem Iran eng verbundenen schiitischen Hisbollah-Milizen im Libanon und von schiitischen Huthi-Kämpfern im Jemen. Droht jetzt ein Flächenbrand?

Wahl: Ich bin kein Politiker, aber wenn man es mit gesundem Menschenverstand betrachtet: In einer so prekären Situation, in der jeder Schritt weitreichende Folgen haben kann, eine solche Entscheidung zu treffen, die völlig unnötig war... Was hat es Israel gebracht, diese iranischen Generäle umzubringen? Das hat diesen unkalkulierbaren Konflikt nur verschärft. 

Stephan Wahl

"Was hat es Israel gebracht, diese iranischen Generäle umzubringen?"

DOMRADIO.DE: Wie geht es weiter für Sie und die Menschen vor Ort? Treffen Sie besondere Sicherheitsvorkehrungen?

Christen und Juden in Jerusalem / © Debbie Hill/OSV News (KNA)
Christen und Juden in Jerusalem / © Debbie Hill/OSV News ( KNA )

Wahl: Die Botschaft hat uns geraten, dass wir uns in der Nähe der Schutzräume aufhalten, aber wir haben keine Schutzräume in Ostjerusalem. Für uns alle geht der Alltag jetzt weiter wie bisher und doch kommt mir zwischendurch der Gedanke: Kann ich überhaupt hier so ruhig sitzen und meinen normalen Alltag haben, wenn 90 Kilometer weiter im Gazastreifen Menschen leiden und sterben? Das gehört mittlerweile zur Tagesordnung, aber da guckt kaum noch jemand drauf. Auch in der Westbank und im Norden an der Grenze ist keine Ruhe. Es ist schwierig, diese Spannung zwischen dem ganz normalen Alltag und dem Bewusstsein, was um einen herum passiert, auszuhalten. 

Stephan Wahl

Kann ich überhaupt hier so ruhig sitzen und meinen normalen Alltag haben, wenn 90 Kilometer weiter im Gazastreifen Menschen leiden und sterben? 

DOMRADIO.DE: Wie blicken Sie in die Zukunft ihrer Wahlheimat? 

Wahl: Schwer zu sagen, das wird sich in den nächsten Stunden und Tagen entscheiden. Es hängt davon ab, ob Israel auf einen Gegenschlag verzichtet, wenn sich in der Regierung die Besonnenen und nicht die Falken durchsetzen. Wichtig ist auch, wie es mit den Geiseln weitergeht, die Verhandlungen sind ein Hin und Her. Immer wieder gibt es auch Rückschläge. Ich hoffe, dass es irgendwann besser wird, aber im Moment guckt man von Tag zu Tag. Es ist alles offen.

DOMRADIO.DE: Ziehen Sie in Erwägung, zurück nach Deutschland zu gehen?

Das haben mich Freunde und meine Familie schon nach dem 7. Oktober gefragt: Willst du wirklich dableiben? Aber ich kann nicht nur hier leben, wenn es gut läuft und wenn es schwierig ist, dann fliege ich schnell zurück nach Deutschland. Deutschland ist meine Heimat, aber Jerusalem ist derzeit mein zu Hause. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.


 

Quelle:
DR