Deutscher Priester bewertet die Situation in Israel

"Kaum auszuhalten"

Israel kommt nicht zur Ruhe. Nach der Abstimmung, in der eine erste Entmachtung des Obersten Gerichtes beschlossen wurde, halten die Proteste an. Der deutsche Priester Stephan Wahl blickt pessimistisch auf die Lage in Israel.

 Israelische Demonstranten protestieren gegen die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren. (1.4.2023) / © Tsafrir Abayov (dpa)
Israelische Demonstranten protestieren gegen die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren. (1.4.2023) / © Tsafrir Abayov ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie die aktuelle Situation in Israel? 

Msgr. Stephan Wahl (privat)
Msgr. Stephan Wahl / ( privat )

Msgr. Stephan Wahl (Autor und Priester in Jerusalem)Es ist eigentlich kaum auszuhalten, wenn man sich wirklich klar macht, was im Moment hier im Land passiert. Das heißt aber nicht, dass es mich persönlich jetzt hier sehr trifft, ich wohne im Ostteil von Jerusalem, da bekommt man von diesen Demonstrationen wenig mit. Viele Menschen haben es vorgestern vor der Knesset bei entsetzlichen Temperaturen ausgehalten und haben dann trotzdem erleben müssen, dass die Rechtsregierung ihr Vorhaben durchsetzt. Das ist natürlich für viele eine riesige Enttäuschung und man hat große Sorge, dass es so weitergeht. Denn der Polizeiminister hat schon gesagt, das war nur der Anfang. 

DOMRADIO.DE: Wir sehen zwar in den deutschen Medien Bilder von Blockaden, Demonstrationen und Protestaktionen. Wie wirken sich die Demonstrationen generell auf den Alltag der Menschen aus? 

Stephan Wahl

"Es ist mittlerweile nicht mehr nur eine Auseinandersetzung um bestimmte Themen, sondern es liegt Hass zwischen beiden Gruppen."

Wahl: Man kann feststellen, dass sich die Gesellschaft hier in Israel immer mehr in zwei Gruppen teilt: das jüdisch-nationalreligiöse und das säkular-demokratische Lager. Die beiden stehen sich unversöhnlich gegenüber. Es ist mittlerweile nicht mehr nur eine Auseinandersetzung um bestimmte Themen, sondern es liegt Hass zwischen beiden Gruppen.

Das Problem einer Besatzung haben wir und Palästina ja immer noch. Wie sich das weiterentwickelt und welche Folgen das für die Gesamtsituation im Land haben wird, das wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Denn was jetzt passiert, ist ja eigentlich nur der Rahmen für mögliche spätere Gesetze, die vielleicht das Leben der Palästinenser, vielleicht auch der Christen erschwert. 

Parlamentswahl in Israel:  Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, bedankt sich bei seinen Anhängern / © Oded Balilty (dpa)
Parlamentswahl in Israel: Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, bedankt sich bei seinen Anhängern / © Oded Balilty ( dpa )

DOMRADIO.DE: Haben sich denn die in Israel lebenden Christen in der aktuellen Auseinandersetzung deutlich positioniert? 

Wahl: Nein, das haben sie nicht. Christen gehören mit einem oder zwei Prozent zur Minderheit und die warten natürlich ab. Der katholische Patriarch hat sich nicht speziell zu der Frage geäußert, aber seine Besorgnis geäußert, dass im Laufe der nächsten Wochen und Monaten Entscheidungen kommen könnten, die Christen negativ beeinflussen. Seit es diese Regierung gibt, können wir feststellen, dass es mehr Übergriffe auf Christen gibt. Die sind aber "einfacher Art" und nicht so stark, wie nationalreligiösen Siedlern zum Beispiel nach Attentaten pogromartig auf Palästinenser losgehen. Dennoch wird die Situation für Christen ein bisschen schwierig, obwohl ich persönlich noch nichts direkt erlebt habe. 

DOMRADIO.DE: Und wie ist die Stimmung in der christlichen Gemeinde? Sind die Christen genauso polarisiert und gespalten wie die israelische Bevölkerung vor Ort? 

Wahl: Das würde ich nicht sagen. Die Christen sind sich in dem Punkt einig. Sie haben die Sorge, dass die einseitig religiöse Gruppe in Israel sich so stark formiert, dass es Folgen hat für die Christen als solche. Aber ich sehe da jetzt keine Zweiteilung innerhalb der Christen in Israel. 

DOMRADIO.DE: Das ganze Jahr über kommen ja Pilger in das Heilige Land, haben die aktuellen Proteste und die Auseinandersetzungen Folgen für die Besucher und Pilger in Israel?

Wahl: Ich habe jetzt dafür keine Zahlen, aber ich weiß von Leuten, die deswegen nicht mehr gekommen sind. Ich weiß von Gruppen, die abgesagt haben und von verschiedenen Überlegungen, die Reisen gar nicht mehr zu planen. Wie sich das insgesamt ausweiten wird, weiß ich im Moment nicht. Aber es gibt Rückzüge. 

DOMRADIO.DE: Sehen Sie denn, wenn Sie mit Ihren Freunden oder Bekannten in Jerusalem vor Ort im Gespräch sind, überhaupt einen Lösungsansatz, wie die aktuellen Auseinandersetzungen überwunden werden könnten? 

Stephan Wahl

"Wenn es so weitergeht, dann kann man eigentlich nur hoffen, dass diese Regierung irgendwann explodiert und es zu Neuwahlen kommt."

Wahl: Ich bin da leider eher auf der Seite der Pessimisten. Wenn es so weitergeht, dann kann man eigentlich nur hoffen, dass diese Regierung irgendwann implodiert und es zu Neuwahlen kommt. Aber wenn das so weitergeht, dann habe ich die Sorge, dass es noch schwieriger wird als es jetzt ist und die beiden Gruppen im Land noch unversöhnlicher aufeinander zugehen. Ich hätte mir nie denken können, dass ein Volk, das unter faschistischen Verbrechern so schrecklich gelitten hat, faschistoiden Minister in ihrer eigenen Regierung duldet. Das ist für mich einfach unglaublich. Aber es ist so!

Das Interview führte Heike Sicconi.

Worum geht es bei den Reformplänen von Israels Regierung?

Seit Januar regiert in Israel die rechteste Regierung in der Geschichte des Staates. Ganz oben auf ihrer politischenAgenda: der Umbau des Justizsystems mit einer deutlichen Schwächung des obersten Gerichts. Das erste Kernelement dafür ist seit Montag Gesetz. Worum geht es bei der Reform? Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) beantwortet einige wichtige Fragen:

Demonstration gegen die geplante Justizreform nahe der Knesset, Sitz des israelischen Parlaments, in Jerusalem / © Andrea Krogmann (KNA)
Demonstration gegen die geplante Justizreform nahe der Knesset, Sitz des israelischen Parlaments, in Jerusalem / © Andrea Krogmann ( KNA )
Quelle:
DR