Deutschlands dienstältester Ballettchef gibt sein Amt ab

"Tanz eine Form von Religiosität"

Die Rolle des Jesus tanzte er oft selbst - John Neumeiers Karriere ist in vieler Hinsicht ungewöhnlich. Mit 85 Jahren verabschiedet sich der Choreograph nun vom Hamburg Ballett. Ganz zurückziehen wird er sich aber nicht.

Autor/in:
Michael Althaus
John Neumeier, Intendant des Hamburg Balletts, spricht zu seinen Tänzerinnen und Tänzern / © Marcus Brandt (dpa)
John Neumeier, Intendant des Hamburg Balletts, spricht zu seinen Tänzerinnen und Tänzern / © Marcus Brandt ( dpa )

Eigentlich wollten die Japaner 1986 bei der ersten Tournee des Hamburg Balletts in ihrem Land kein christliches Werk sehen. Schließlich entschied sich John Neumeier doch, seine Choreographie zu Bachs Matthäus-Passion aufzuführen. In Hiroshima - dem Ort des Atombombenangriffs der USA von 1945. Als Amerikaner sei dieses Ereignis ein gewisses Trauma für ihn, erzählte Neumeier kürzlich bei einem Gesprächsabend im Hamburger Michel. Die Aufführung dieses Werks über Schuld, Liebe und Vergebung an diesem Ort sei ein Versuch gewesen, zur Hoffnung aufzurufen. "Das war der Höhepunkt meiner Karriere."

Der Wunsch nach Frieden zieht sich durch Neumeiers Schaffen, das nun an einem Wendepunkt steht. Ende Juli will der 85-Jährige die Leitung des Hamburg Ballets abgeben. 51 Jahre stand er an der Spitze des von ihm gegründeten Ensembles - damit ist er Deutschlands dienstältester Ballettdirektor. Seine Werke werden international gefeiert.

Große Karriere lag nicht in der Wiege

In die Wiege gelegt ist Neumeier die große Karriere nicht: Geboren als Sohn eines Seemanns und einer Hausfrau in der US-amerikanischen Stadt Milwaukee, interessierten ihn schon früh Zeichnen, Malen, Lesen und das Tanzen. Seine Mutter förderte Johns Interessen nach Kräften, ließ ihn Zeichenunterricht nehmen und ging mit ihm ins Kino und ins Ballett. Auf Wunsch seiner Eltern studierte er zunächst Englische Literatur und Theaterwissenschaften.

Balletttänzer stehen bei einer Vorführung des Ballettstücks „Epilog“ von John Neumeier in der Hamburgischen Staatsoper auf der Bühne. / © Daniel Bockwoldt (dpa)
Balletttänzer stehen bei einer Vorführung des Ballettstücks „Epilog“ von John Neumeier in der Hamburgischen Staatsoper auf der Bühne. / © Daniel Bockwoldt ( dpa )

Den Schritt, aus seiner Passion einen Beruf zu machen, wagte er dank eines Jesuitenpaters: John J. Walsh, Tanzlehrer an der katholischen Marquette-Universität in Milwaukee, wies dem jungen Mann seinen Weg als Tänzer. Und der führte Neumeier in kürzester Zeit ganz nach oben.

Ruf nach Deutschland gefolgt

Über New York ging es nach London und Stuttgart, wo mit John Cranko damals einer der renommiertesten Ballettdirektoren tätig war. Von 1963 bis 1969 gehörte der junge Amerikaner Crankos Kompagnie an, entwarf dort auch seine ersten Choreographien. Es folgte der Ruf als Ballettdirektor nach Frankfurt und schließlich nach Hamburg.

Dort erschloss er dem Ballett zentrale Werke der Weltliteratur: von Homers "Odyssee" über Alexandre Dumas' "Kameliendame" bis hin zu Thomas Manns "Tod in Venedig". Außerdem verfasste er ein Werk über sein großes Vorbild, die Ballettikone Vaslaw Nijinsky.

Erstmals Choreographien zu geistlichen Werken geschaffen

Und Neumeier wandte sich Werken der geistlichen Musik zu - als erster Choreograph überhaupt. Als er 1980 seine Inszenierung der Matthäuspassion präsentierte - zuerst in der Kirche, dann in der Oper - löste das heftige Diskussionen aus. Heute zählt seine Version des Bachschen Meisterwerks zu den Klassikern des Tanztheaters.

Es folgten weitere geistliche Werke wie das Mozart-Requiem, Händels Messias und zuletzt Bachs h-Moll-Messe, die bei Neumeier "Dona nobis pacem" (Gib uns Frieden) heißt. Tanz sei für ihn immer selbstverständlich eine Form von Religiosität gewesen, so der Katholik. Aber er wolle niemanden missionieren. Bei der Matthäus-Passion tanzte er oft den Jesus selbst - so auch in Hiroshima.

Der mehrfach preisgekrönte Neumeier gilt als extrem fleißig und verlangt seinen Tänzern viel ab. Kurz vor seinem 80. Geburtstag heiratete er seinen langjährigen Lebenspartner, den Herzchirurgen Hermann Reichenspurner, mit dem er allerdings nicht zusammenwohnt. Um sich fit zu halten, trainiert er nach eigenen Worten zwei Mal in der Woche auf einem Crosstrainer.

Beim Alter geschummelt

Bei seinem Alter hat Neumeier jahrelang geschummelt. Das flog auf, als ihm seine Kirchengemeinde 2009 zum 70. Geburtstag gratulierte - während er selbst behauptete, erst 67 Jahre vollendet zu haben. Jahre später bekannte er in einem Interview, sein Geburtsdatum in den 60er-Jahren bewusst drei Jahre nach vorn verlegt zu haben. Er habe befürchtet, andernfalls bei der Royal Ballet School in London abgewiesen zu werden.

Mit seinem kürzlich uraufgeführtem Werk "Epilog" blickt der Starchoreograph auf sein Lebenswerk zurück. An der Spitze des Hamburg Balletts wird ihm der bisherige Düsseldorfer Ballettchef Demis Volpi nachfolgen. Neumeier wird sich unterdessen wohl kaum ganz zurückziehen. Er hat bereits angekündigt, bis 2030 das nach ihm benannte Tanzfestival "The World of John Neumeier" in Baden-Baden zu kuratieren.

Quelle:
KNA